Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
Vom Netzwerk:
dem »Durcheinander der Vorstellungen (babylonische Verwirrung)« auseinandersetzen, um »in den Gemütern eine französische Antibabel-Gesinnung entstehen zu lassen, um die Gerechtigkeit zu schützen«.
    Und da – ja, da ist die Blaue Bibliothek, da wird nachmittags Tee getrunken, da leiht man sich Fahrräder und strampelt nach Chablis, und da sitzt man im Garten und absolviert verschiedene Konversationsübungen, während ringsherum zartes Frühlingsgrün sprießt – seht, da sitzt ja auch Charlotte: Da gestikuliert sie, da zeigt sie ein sympathisches Lächeln, da berichtigt sie eine Aussprache und da beugt sie sich über den Text mit La Fontaines Fabeln und ist bei der Übersetzung behilflich – ja, und da bezaubert sie auch Madame Desjardins, Paul Desjardins Tochter, mit ihrem Charme, die alles versuchen wird, damit Charlotte bleiben kann.

    Vielleicht hatte sie aber doch das Gefühl, dass sie sich vor dem wahren Leben drückte, während die ganze Welt Kriegsvorbereitungen traf? Es muss doch sicher bizarr angemutet haben, über den 1. Mai zu diskutieren, statt sich den Demonstrationszügen auf den Straßen anzuschließen? Und als Sven Backlund »demagogisch« seinen sozialdemokratischen Pferdefuß zeigt, weckt das gleichsam ihren geläuterten kommunistischen Widerspruchsgeist – na warte , hält sie murrend
in ihrem Tagebuch fest, das werd' ich dir noch aufs Butterbrot schmieren! Backlund war ein schwedischer Soziademokrat, der an der Nordiska folkhögskolan , der Nordischen Volkshochschule in Genf, in der Volksbildung tätig war, seit 1935 jedoch Initiator einer École de culture française für junge Skandinavier war, weshalb es in Pontigny von schneidigen Norwegern und Schweden nur so wimmelte.

    Konversation in Pontigny. Zur Linken Gabbi Sømme, zur Rechten Charlotte, Einar steht. Die Identität der anderen ist ungeklärt.
    Und als André Gide, ein häufiger Gast, Pontigny wieder einmal besucht, nimmt sie den alternden Mann unter die Lupe, seine trockenen Augen, in denen ein harter Ausdruck liegt, und ihr Urteil steht fest: Senil, sentimental – wie Backlund –, glaubt nicht an den Klassenkampf! Zu diesem Urteil trug gewiss auch bei, dass Gide nach einer Moskaureise im Jahr 1936 – wo er bei Maxim Gorkis Beerdigung eine Rede hielt – in Kommunistenkreisen als persona non grata galt, denke ich im Stillen. Denn im Unterschied zu Lion Feuchtwanger schrieb Gide kritisch über das, was er gesehen hatte –
ein Buch, das sie gekannt haben muss, aber vermutlich nie gelesen hat.
    Sie landet also in einer Welt liberaler, sozialdemokratischer, anarchistischer und – wie sie schreibt – trotzkistischer Schöngeister und Idealisten; zumindest stellt sie es so dar, und plötzlich scheint es, als ob jeglicher Wankelmut von ihr abfällt und ihr Glaube umso unerschütterlicher wird, je heftiger die Sowjetunion und der Kommunismus von den Intellektuellen vor Ort angegriffen werden – »Ich bin keine Fatalistin! Ich könnte, glaube ich, für meinen Glauben in den Tod gehen! Diese wahnsinnige Hetze gegen die Sowjetunion! Irrsinn! Blöd!« Man behalte im Hinterkopf, dass sie im März 1938 in Pontigny eintraf, als die Wogen dieser Diskussion hochschlugen – fand da doch gerade der 3. große Moskauer Schauprozess statt. Auf dem der alte Bolschewist Bucharin sich vor der versammelten Weltpresse als Gestaposchwein bezeichnete. Noch brennt sie für die Sache.

    Nach dem schweren Herbst 1938 ist Pontigny erneut ihre Rettung dank Madame Desjardins Einsatz. Jetzt arbeitet sie als Angestellte in Pontigny, mit einem Gehalt und der frisch erwachten Hoffnung, dass ein sinnvolles Dasein auf sie wartet, dass sie von Nutzen ist. Das Empfehlungsschreiben, das ihr später in den kalten Norden mit auf den Weg gegeben wird, listet ihre Fähigkeiten akribisch auf: Stenografie, Maschinenschreiben, Massage und » de la gymnastique et culture physique« – Kenntnisse auf dem Gebiet der Gymnastik und der körperlichen Ertüchtigung. »Wir hoffen«, schrieb Madame, »dass sie dank dieser vielseitigen Kenntnisse eine geeignete Anstellung finden wird.« Weshalb aber wurde sie nicht aufgrund ihrer Sprachkenntnisse, ihres Unterrichtstalents, ihrer Zusammenstellung von wöchentlichen politischen Übersichten, ihrer Übersetzungen ins Französische –
wie Ausschnitte aus Brechts Bühnenstücken (z.B. Die jüdische Frau ) – empfohlen?
    Wie auch immer, vom 1. Januar 1939 bis zu ihrer Ausweisung im Juli 1939 ist sie hier, in dieser

Weitere Kostenlose Bücher