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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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unwahrscheinlich schönen Umgebung, in Gesellschaft zahlreicher, ihr wohlgesonnener Menschen, sodass sie – im Nachhinein – erneut feststellen kann, dass sie Glück gehabt hat. Ein phänomenales Glück, selbst wenn sie es damals, in dem Moment, anders gesehen hat.

    Jener Frühling sollte der letzte normale in der Geschichte Pontignys sein, ein Frühling, der aus »Antibabelkursen«, Vorträgen, Gedenkstunden, Dichterlesungen, Teestunden bestand und von einem solidarischem Miteinander und Begegnungen zwischen Menschen aus allen Ecken und Enden Europas geprägt war – Schweden, Norwegern, Spaniern, Tschechen, Exildeutschen, Franzosen …
    Unterdessen färbte sich der Hintergrund, vor dem sich diese Szenerie, dieses Alltagsleben abspielte, zunehmend schwarz-weiß, war zunehmend Abscheu erregend, und überschattete diesen letzten Vorkriegswinter bzw. Vorkriegsfrühjahr. In Spanien neigte sich die Revolte, die seit 1936 andauerte, als ein Militärputsch das Volksfront-Bündnis in Madrid zu stürzen versucht hatte, seinem Ende zu. Jedoch hatte sich daraus rasch ein verheerender Bürgerkrieg zwischen Francos Faschisten – dem rechten politischen Lager, sprich Militär, Monarchie, Kirche und Kapitalismus – und der Regierung – dem republikanischen linken Lager – entwickelt, der scharenweise junge Idealisten aus aller Welt anzog. Überall stürmten sie die Züge nach Paris, zur spanischen Grenze, um sich anschließend auf verschiedenen Wegen ins Land zu begeben, um für die jeweilige Seite zu kämpfen. Was für ein entsetzlicher Krieg das war – was für ein Gemetzel von Schuldigen und Unschuldigen! Dort kam es zu den ersten
Bombardierungen von Zivilisten, von Frauen und Kindern, in der Weltgeschichte – so am 26. April 1937 in Guernica. Ein Krieg, der so etwas wie einen ersten Probelauf für den Weltkrieg darstellte, ein Krieg, in dem sich Deutschland und Italien auf Francos Seite schlugen – während die Westmächte sich hinter ihrem ach so hehren Pazifismus verschanzten und bis auf die Sowjetunion niemand der Regierungsseite zu Hilfe kam. Während zur selben Zeit ausgerechnet die Internationalen Brigaden unter der Komintern hier ebenfalls ihre sektenartigen Prozesse, ihren Glaubenskrieg gegen Anarchisten und Trotzisten lostraten und den Widerstand gleichsam von innen heraus auffraßen. Dieser Krieg, in den die Linke so große Hoffnungen gesetzt hatte, sollte sich nun auf sein tragisches Ende zubewegen.
    Auch in Frankreich erzeugte der spanische Bürgerkrieg eine unmittelbare politische Resonanz – im April 1938 trat Camille Chautemps zurück – stattdessen betrat Édouard Daladier, der das Münchner Abkommen unterzeichnen sollte, die politische Bühne – »Frieden für unsere Zeit« –, sodass in Frankreich im Herbst Unruhen und Generalstreiks aufflackerten und die optimistische Volksfrontpolitik endgültig scheiterte. Die Zeit läuft ab, sie verrinnt im Stundenglas – auch für Charlotte in Pontigny.
    Der Junge
    Es geht schließlich um meine Mutter und meinen Vater – deshalb möchte ich natürlich, dass es Liebe ist, eine große Verliebtheit; sie sollen sich lieben, Papa soll an ihr, vom Handgelenk bis zum Hals hinauf, wie ein verliebter Schuljunge Maß nehmen: Gewicht 51, Größe 166, Hals 32, Brust (Kleidung) 83-89, Taille 65,5, Hüften 87, Handgelenke 14,75, rechte Fessel 20,5, linke Wade 32,5 Zentimeter … Sie soll leicht trunken vom Chablis auf seinem Gepäckträger sitzen, die Arme um seine Taille schlingen und ihre Wange an seinen
Rücken schmiegen … Ach was – lass uns einfach glücklich sein, das ist unsere Zeit, um glücklich zu sein – jetzt.
    Er war auf einen Stock gestützt nach Pontigny gekommen, weil sein Fuß nach Absolvierung einer sensationellen Kombination am Reck – er war Turner – ein paar Jahre zuvor unwiderruflichen Schaden erlitten hatte, als er (falsch) auf der Matte aufkam. Er hatte mit gestreckten Armen die Reckstange umkreist, hatte den Körper zu einem vollendeten Bogen gestreckt, den Griff im Flug gelöst – und war falsch gelandet. Jemand habe ihm die Matte weggezogen, meinte er. Was weiß ich. So musste er, der eigentlich mit den schwedischen Turnern an der Sommerolympiade in Berlin hätte teilnehmen sollen, zu Hause bleiben und wurde zunehmend von Pessimismus und Verzweiflung ergriffen. Seine kleine, ihn heiß und innig liebende Schwester Birgit hatte vor der Tür seines Reihenhauses in der Ålstensgatan 71 gewacht, wo er sich verbarrikadiert hatte, und ihn

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