Meine Mutter, die Gräfin
sie in irgendeine Flüchtlingswohngemeinschaft in Joinville vor den Toren von Paris, wo sie (Peter und der Kleine zumindest scheinen auch dort gewohnt zu haben) zusammen lebten, sich trafen, rauchten, tranken, tanzten und den Tränen freien Lauf ließen. Diese menschlichen Schemen, von denen mir nur noch schwer zu entziffernde Namen in ihrem kleinen weinroten Tagebuch geblieben sind – jenem Tagebuch, das ich nach ihrem Tod aus dem Papierkorb gefischt habe, wo Papa es zuvor hineingeworfen hatte, jenes Tagebuch, dessen Seiten sie mit einer Schrift füllt, so gestochen klein wie die von Emilie. Wird sie von Peter getröstet? Versucht Friedl sich an einer Deutung des Traumes? Charlotte schüttelt den Kopf darüber: Versteckte Homosexualität, Penisneid – der Revolver … Nein, nein, falsch! Ganz falsch! Ach was! Der Traum lässt sie nicht los, als sie endlich den Mut fasst aufzustehen – glaube ich –, als ob sie etwas ahnt.
Die Buntheit des Alltagslebens blitzt hier und da zwischen den Zeilen des kleinen weinroten Tagebuchs auf. Sie bemüht sich, ihre Stenografiekenntnisse aufzufrischen, sie geht ins Konzert – »habe zum ersten Mal Strauß' ›Don Juan‹ gehört – beeindruckend«, besucht Tania und macht bei ihr Gymnastik – Tania, die Gymnastikerin, ist frisch mit einem irländischen Schriftsteller, James Stern, verheiratet. Allerdings bekommt ihre Freundschaft langsam Risse ( weil Tania in ihrer Naivität immer noch an den Kommunismus glaubt und sie die
Treulosigkeit ihrer einstigen Freundin als einen Verrat an ihrem Bruder empfindet? Ich rate nur) . Sie bügelt bei Gillie ihre Bluse, sitzt abends in kleinen Bistros und begeht vermutlich »etliche Dummheiten«, oder sie schreibt Gedichte an Heini, durchleidet eine Zahnbehandlung – diese verfluchten Zähne –, sie liest Victor Hugo und Schopenhauer und wartet auf Post, nicht nur auf einen Brief von Heini – dessen Schicksal Anlass zu wilden Spekulationen gibt: Mal geht es ihm gut, mal geht es ihm schlecht –, sondern auch auf Briefe von Tschü… und Blatschek – da schau an! –, der in sie verliebt zu sein scheint (»Aber er ist trotzdem nicht der Richtige«), und auf Post von Yolem, der Ansichtskarten aus London schickt (»Ihn habe ich wirklich sehr lieb gehabt«).
Das Weihnachtsfest 1937 feiern sie, die Gestrandeten, gemeinsam in Joinville. Menschliche Schemen ohne Identität – Peter? Der Kleine? Peter wird, ihrem Tagebuch zufolge, im Frühjahr 1939 als Gestapoagent aus Frankreich ausgewiesen und geht nach Schweden. Der Kleine wird sich das Leben nehmen. Hedi wird einen Longuet heiraten, den Longuets sollten wir im Sommer 1957 in Paris einen Besuch abstatten, einen Besuch, bei dem Eili und ich uns angesichts ihrer schönen Wohnung in der Nähe des Triumphbogens wie große, ungeschlachte schwedische Kühe vorkamen. Der geheimnisvolle Tschü… taucht mit Weihnachtsgeschenken, Nachthemden und Zigaretten auf – und Paris ist morgens, wenn die Sonne wieder scheint, immer wieder einfach wundervoll! Ein neuer Freundeskreis hat sich gebildet, ein Kreis, in dem sie sich in dem eiskalten Klima, das sich jener Tage ausbreitet, gegenseitig wärmen. Oder?
Denn ich finde auch anderes, Spuren, die von etwas weitaus Düstererem sprechen. Spuren, die darauf hindeuten, dass sie keineswegs absprang, als sie nach Paris kam. Da wäre beispielsweise das Gedicht »Geheimnisse«:
»Stern muß verbrennen
Schlaflos im Äther
Damit um Erden
das Leben grünt
Blut muß versinken,
viel Blut, viel Tränen,
damit uns Erde
zur Heimat wird
Es gibt kein Ende,
nur glühendes Dienen
Zerfallend senden
Wir Strahlen aus«
Das klingt ja nicht so berauschend, denke ich im Stillen. Und was soll dieser Eintrag vom 5. Dezember 1937 bedeuten: »Dann in Joinville etwas gealbert (Hintergrund ist und bleibt unheimlich, unfassbar) und Rummy gespielt. Habe kein Mitleid mehr, und es ist schon richtig, dass ich meine Sentimentalität überwinden muss.« Landgraf, werde hart …
Am 14. Dezember 1937: »Ich habe immer noch keine innere Ruhe gefunden, weil ich mich immer noch nicht entschieden habe« – und im selben Atemzug: »Bin den ganzen Tag im Bett geblieben, bin so kaputt ; wo steckt Heini bloß, ich muss mit ihm über alles sprechen, brauche Klarheit. Doch das wäre vermutlich zu einfach, ich muss wohl selbst da durch …«
22. Dezember 1937: »Alles ist vollkommen zerstört und schrecklich.« Alles?
23. Februar 1938: »Nur selten etwas aus Kopenhagen. Kein
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