Meine Mutter, die Gräfin
für unsere Zeit« – »die größte Lumperei, die es je gegeben hat, und wahrhaftig ein Beleg für die Richtigkeit der marxistischen Thesen und dass die Politik des Kommunismus das einzig Folgerichtige ist« – der Kleine begeht Selbstmord, und der »Versammlung der verkrachten Existenzen«
wird es zunehmend schwerer gemacht, sich gegenseitig zu wärmen. Emigranten ohne Zukunft, stattdessen nur dunkle Gewitterwolken am politischen Horizont, Emigranten ohne Geld und ohne Hoffnung auf eine richtige Arbeit: Da wären Kluges, Cele, Peter, Annemarie (»ein unglückliches und unmögliches Geschöpf«, schreibt sie in ihrem Tagebuch) und Friedl. Und in Frankreich wird das Klima für die verkrachten, zerlumpten Existenzen immer rauer. Die Nacht vom 9. auf den 10. November, die deutsche Reichskristallnacht also, verbringt sie auf dem Polizeirevier, wo sie im Wartezimmer diese Menge verzweifelter, gleichsam betäubt wirkender Menschen sieht; Menschen, die jeglicher Hoffnung beraubt sind, noch jenen Stempel, der ihnen eine Aufenthaltserlaubnis verspricht, zu bekommen. Im Dezember wurde »diese böse Gerri-Geschichte« von der Polizei ausgegraben, und sie bekam eine »Heidenangst« – »habe natürlich völlig falsch reagiert« –, wurde aber von Etienne gerettet – vorübergehend. Denn am 28. Dezember 1938 wurde der vom Innenminister Albert-Pierre Sarraut unterzeichnete Beschluss gefasst, dass sie eine Gefahr für die Sicherheit des Landes darstelle und ausgewiesen werden müsse. Ein Dokument, das ihr am 23. April 1939 vorgelegt wird.
Als sie ein Resümee dieses Jahres, ihres 1938, zieht, fühlt sie sich wie der Reiter in Der Reiter über den Bodensee – eine alte Kunstballade aus dem frühen 19. Jahrhundert, die von einem Reiter handelt, der über den zugefrorenen und schneebedeckten Bodensee ritt, aber vor Schreck tot vom Ross fiel, als ihm aufging, dass er die ganze Zeit in Lebensgefahr war, weil sich unter ihm ein Abgrund eisigen, düsteren, tiefen Wassers hätte auftun können. Ein eisiger Abgrund …
Urlaub vom Leben
Aber ausschließlich düster und unheimlich war ihr Jahr 1938 dann doch nicht. Es gab auch idyllische Zeiten – mit zeitweiligen, kurzen »Sommerurlauben« vom Leben, draußen, auf dem Lande, in Pontigny im Département Yonne. Pontigny – das erinnert an die Süße, die diese anderen magischen Namen für mich hatten: Radautz, Czernowitz, Bukowina – Honignamen. Ja, vielleicht zerging er mir noch mehr auf der Zunge – haftete doch allem Französischen bei uns zu Hause im Cigarrvägen 9 in Hökarängen etwas beinahe Heiliges an. Schließlich hatten sie sich in Frankreich kennengelernt, meine Mutter und mein Vater Einar.
Verschwommene, kleine Fotografien von Menschen, die in einem Garten versammelt sind – im Hintergrund Steinmauern. Da sehe ich Papa, der sich auf seinen Stock stützt, und – ja, da sitzt Mama – in der Mitte.
»Hier herrscht so ein Idyll«, schreibt sie Anfang März 1938 an Emilie und Fritz, »für zu Nervosität neigende Menschen ist es einmalig! Wie Ihr seht, habe ich wieder einmal verdammt viel Glück gehabt.«
Immer wieder hat sie »Glück« – es scheint eine ihrer Eigenschaften zu sein. Glück zu haben bedeutet, mit Schönheit gesegnet zu sein, jemand zu sein, dessen Gesellschaft andere genießen möchten – das ist Glück, sinniere ich. Diesmal hat ihr eine alte Freundin aus Berlin, Georgette Aldheim, ein Stipendium für einen einmonatigen Aufenthalt in dieser fantastischen Umgebung besorgt: eine alte Abtei in Yonne, nicht weit von Paris, die als eine Art Heimvolkshochschule fungierte, die für ihre Décades de Pontigny – jährlich stattfindende, zehn Tage dauernde Konferenzen zu verschiedenen Themen – europaweit bekannt war. Die treibende Kraft dahinter war Paul Desjardins, der die Abtei bereits 1909 erworben hatte. Diese »Dekaden« waren in regelmäßigen Abständen während der ganzen Zwischenkriegszeit abgehalten
worden; die letzte fand 1939 statt, als der Krieg ausbrach und kurz bevor Desjardins starb. Die Abtei war ein Treffpunkt der französischen intellektuellen Elite, Martin du Gerd, André Gide, auch Sartre, Beauvoir, Thomas Mann und viele andere kamen dorthin.
Sie hielt sich im Jahr 1938 zwei Monate dort auf, im März und im Mai. Als sie dort eintraf, gab es schon Zentralheizung in der Abtei, die im Jahr zuvor installiert worden war, als auch der neue Begriff »Antibabel« geprägt worden war. In einer internationalen Kursreihe wollte man sich mit
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