Meine Mutter, die Gräfin
ohne Freunde, als Ausgestoßene in einer Stadt, die zunehmend in der eiskalten Umklammerung des Terrors erstarrte – und eine Grete, die im Zuge des Nichtangriffspaktes zwischen der Sowjetunion und Hitlerdeutschland 1940 an Deutschland ausgeliefert worden war und im Konzentrationslager Ravensbrück landete. Sie starren sich an, registrieren unbewusst die Spuren, die die vergangenen zehn Jahre im Gesicht der anderen hinterlassen
haben: die weißen Strähnen, die ihrer beider Haare durchziehen, die dunklen Schatten unter ihren Augen, den ersten Faltenansatz um den Mund.
Der Unterricht muss heute ausfallen, wird die Lehrerin ihren erstaunten Schülern auf Schwedisch, in dem ein leichter deutscher Akzent durchscheint, verkündet haben. Und so steuern die beiden Frauen – »wie im Nebel«, schreibt Grete – das nächste Café, Mor Anna , an, sinken einander gegenüber in die Sitzpolster und tasten nach ihren Zigaretten:
»Was ist mit Heinrich? Und was mit Heinz? Leben sie noch?«
Aber Grete schüttelt nur den Kopf. Auch wenn sie nicht weiß, wie , so weiß sie doch, dass :
»Sie sind verschwunden … Wußtest du das nicht?«
Charlotte nickt.
»Seit zehn Jahren habe ich euch als Tote beweint. Aber ich habe nichts getan, um euch zu retten, als es noch möglich war.«
Doch Grete versichert ihr, dass sie gar nichts hätte ausrichten können – saß man erst einmal in einem Gefängnis des NKWD , war man verloren. Sie hätte nichts tun können. Aber Charlotte soll doch erzählen, was ihr widerfahren sei.
Und so tischt Charlotte Grete ihre kleine Lügengeschichte auf – wie sie durch Zufall einer Spionagekarriere entging und nach Paris kam.
Aber was ist dann passiert? Was macht sie hier?
Ja, was macht sie hier, in diesem kalten, abgeschirmten Land mit seinem miserabel schmeckenden süßen Brot – diese klebrigen Brotlaibe – seinem schrecklichen Essen – die erste Begegnung mit Stockfisch war traumatisch gewesen –, seiner merkwürdigen Alkoholpolitik, wo Frauen auf Vorlage ihres Rationierungsbuches nur ein Drittel dessen bekamen, was die Männer erhielten –, mit seinem Mangel an Kultur – Bell
mans schöne Melodien waren schließlich direkt aus Deutschland entliehen –, seiner fürchterlich jammernden Volksmusik, mit – sie bremst sich. Trotzdem ist dieses Land ein Hafen, bietet Freundschaft, strahlt eine leise Wärme aus. Sie hat Kinder. Einen Mann. Soll sie sich etwa beschweren, sie, die dem Grauen des Krieges entgangen ist, während ihre Schwester in Leipzig Not gelitten hat und leidet, krank und arm, ja sogar unterernährt ist und im Schutzbunker operiert werden musste, während die Bomber am Himmel kreisten? Während das Schicksal ihrer Freunde ungewiss ist – tot, verschwunden, vom Krieg in alle Winde verweht. Und da soll sie sich beschweren?
Orre – Herbst 1939
Sie hatte Paris Ende Juli 1939 verlassen; zwei Jahre nachdem sie dort eingetroffen war. Ihre Freunde hatten ein bisschen Geld für sie zusammengekratzt: Von Gillie bekam sie 300 Francs, Alexander Kahil, einer ihrer Liebhaber aus Pontigny, schenkte ihr 600 Francs, und ein anderer Freund aus Pontigny, Pierre L., gab ihr ganze 1000 Francs. Das sollte zumindest für ein paar Monate reichen.
Und so fuhr sie zurück in den Norden; ein Flüchtling, der seine alten Spuren kreuzte. Drei Tage streifte sie auf sich allein gestellt durch Kopenhagen, und natürlich war sofort wieder die Polizei zur Stelle und hielt ein wachsames Auge auf sie. Sie wollte doch nicht etwa hierbleiben? Nein. Sie fährt auf Einladung von Gabbi Sømme, die ihr angeboten hat, bei ihr zu wohnen, nach Stavanger/Orre in Norwegen – aber wie hatte ihr Herz vor Angst geklopft, als sie die norwegische Grenze erreicht hatten, besaß sie doch keine Einreiseerlaubnis, sondern nur eine Einladung der norwegischen Gewerkschaftsbewegung. Doch das reichte. Danke, Backlund, danke, Gabbi!
In Oslo weinte sie vor Erschöpfung, wegen den Strapazen
der Reise, vor Angst, weil sie all ihre Freunde verlor, wegen ihres Hutes, der über Bord des Schiffes segelte, wegen des verschwundenen Gepäcks, aber auch aus dem Gefühl heraus, den neuen Abenteuern, die sie in diesem abgelegenen Land erwarten würden, machtlos gegenüberzustehen, ja, aus Angst vor der Zukunft, vor Kummer, weil sie und der Jüngling, den sie heiraten wird, sich nicht in Kopenhagen treffen konnten, aus Sorge um ihre zahlreichen Freunde, die zurückgeblieben waren, und weil sich in ihrem tiefsten Innern erneut die
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