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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Lage für die Arbeiterbewegung, das ist ja noch schlimmer als 1914. Was Heini wohl dazu sagen wird? Ich bin völlig am Boden zerstört – wie ich mich dagegen angestemmt habe, aber dieser Betrug der Sowjets scheint wahr zu sein.« Und am 18. September, als die Sowjetunion verkündet hatte, dass sie die baltischen Staaten zu »befreien« gedächten, nachdem sie Hitler dabei geholfen hatten, Polen aufzuteilen, schreibt sie zuletzt vom »Verrat der Russen«, und es scheint, als ob sie sich jetzt endlich erlaubt, die von ihrem Unterbewusstsein in Moskau registrierte triste, bedrohliche, Unterdrückung signalisierende Atmosphäre, die »Polinowsche [?] Atmosphäre«, ins Bewusstsein zu rufen:

    »Was mag bloß mit Heini und all den anderen sein! Warum hat man Béla Kun, Hoinigs, Neumann, Ottwalt, Heini und all die anderen eingesperrt und womöglich hingerichtet? Und was wollte man mit mir? Und Ida, Ruth, Grete, Roan, Anka und die Spanienkämpfer? Fragen, Fragen – auf die ich eine Antwort haben muss!«

    Damit weiß ich jetzt also, dass sie vom Terror gewusst hat, dass sie gewusst haben muss, was passierte. Sie war nicht der Unschuldsengel, als den Grete sie hingestellt hat – die schö
ne, aber etwas – na ja, nicht einfältige, aber unbeabsichtigt gedankenlose »Bourguika«, die von nichts eine Ahnung gehabt hat. Die Frage ist, wie viel sie davon gewusst hat, bevor sie Moskau verließ. (Alle Männer, die sie erwähnt – bis auf Ottwalt – wurden nach ihrer Abreise, im Jahr 1937, verhaftet. Von den Frauen konnte ich nur Ida Osrin, Anka Süßkind und Grete identifizieren; Grete, die ja 1938 verhaftet wurde.)

    Dann fuhr Gabbi wieder ab, und wieder ist sie völlig allein dort – als sei man auf dem Mond –,während ihr Körper immer unförmiger wird. Und sie unternimmt lange Strandspaziergänge, die Briefe bleiben aus, die Dorfbewohner sehen sie, die Deutsche, mit wenn möglich noch schieferem Blick an, womöglich wird Einar kommen, sodass sie heiraten können, auch wenn sie das eigentlich nicht will, nicht nach Schweden will, hierbleiben möchte, vielleicht können Gabbi und sie sich ja gegenseitig unter die Arme greifen und in Bergen irgendwelche Hilfsarbeiten machen? Später, wenn das Baby geboren ist? Und wer, hast du gedacht, Genossin Stenbock, sollte sich dann um »Baby« kümmern?
    Frau Hirdman
    Er kam einen Monat zu früh, der kleine Henrik-Sven. Eigentlich hätte sie ihn ja Abel nennen wollen, wie sie an Leni geschrieben hatte, aber Henrik sei ja ein so schöner Name, den gäbe es in allen Sprachen. Nicht wahr? Aber Sven? War das vielleicht trotz allem so etwas wie eine Geste an Gabbis Sven – Backlund? Weil jetzt, nach dem Nichtangriffspakt, nicht mehr die Sozialdemokratie an den Pranger gehörte, sondern der Kommunismus?
    Ja, das Baby kam einen Monat zu früh; 2260 Gramm brachte es auf die Waage. Samt seinem dicken, schwarzen Schopf. Er wurde unehelich geboren, da Einar es nicht geschafft hatte, rechtzeitig zu kommen; also heirateten sie im Anschluss,
in Stavanger, woraufhin er nach Stockholm zurückfuhr – grimmig und schwermütig, aber sie verspürt kein Mitleid mit ihm, auch keine Liebe – sie spürt nichts.

    »Jetzt bin ich Schwedin und heiße Hirdman, Lebwohl, meine gute Stenbock – zehn Jahre hab' ich so geheißen, zehn Jahre, in denen ich viel erlebt habe – und jetzt diese große Zurückgezogenheit – hoffentlich verblöde ich nicht zu sehr. Es ist schön und seltsam zugleich, Mutter zu sein. Wie schaffen das nur die Frauen, die mehrere Kinder haben, die Arbeiterinnen, so ganz ohne Hilfe? In den ersten Wochen nach der Klinik habe ich mich zu nichts aufraffen können, noch nicht mal zum Lesen oder Stricken.«

    Mit einem Schweden verheiratet zu sein kam einer Rettung gleich. Einer Rettung vor der Staatenlosigkeit, vorm Flüchtlingsdasein, einer Rettung vor Untersuchungen und Befragungen. Niemand beäugt diese einstige Gräfin, diese ehemalige Kommunistin noch misstrauisch, sie ist über jeden Zweifel erhaben. Denn sie ist nunmehr eine schwedische Frau und verschmilzt so mit jener großen, kollektiven Masse in Schweden, die mit dem Etikett »Frau-Sein« versehen ist. Keine Einbürgerungstests – nichts.
    Doch, sagen mir meine Kollegen, es müsse eigentlich eine Akte über sie im schwedischen Reichsarchiv existieren, dort gibt es über alle eine Akte, denen die schwedische Staatsbürgerschaft erteilt wurde. Alle vielleicht, aber das galt nicht für Frauen, die einen Schweden heirateten –

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