Meine Mutter, die Gräfin
Niedergeschlagenheit ob Emilies Tod regte. Ganz leer weinte sie sich: »Es fiel – und fällt – mir in den letzten zehn Tagen so unendlich schwer, überhaupt irgendwas zu fühlen, überhaupt die Realität wahrzunehmen. Ich bin ganz kalt und wie erstarrt, nur wenn es mir körperlich schlecht geht, kann ich überhaupt irgendwas fühlen. Ob das Kind das spürt?«
Das Kind ist in diesem Spätsommer ihr Trost, in diesem Spätsommer, als in Europa der Krieg auf der Lauer lag, während die Menschen noch mähten und droschen, schwammen und tanzten und in der Sommerhitze zur Arbeit gingen, in Cafés saßen und rauchten, das Kino besuchten und sich Dokumentarfilme ansahen. Unterdessen verhandelten die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich über eine Art Allianz gegen Hitlerdeutschland, doch es kam nichts dabei heraus. Warum konnte man sich denn nicht zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung durchringen, um diesen Wahnsinnigen zu stoppen? Ah! Aber natürlich verhindern das die Westmächte, die wegen ihrer tiefsitzenden Furcht vor dem Kommunismus mit Blindheit geschlagen sind, sodass Deutschland in aller Ruhe aufrüsten und sich an seiner Beute gütlich tun kann, die es sich im letzten Jahr von niemandem gehindert aneignen konnte – den »Anschluss« Österreichs im März des vorigen Jahres und die Einverleibung aller sudetendeutschen Gebiete im September (Münchner Abkommen, Frieden für unsere Zeit …), was praktisch den Zerfall
der Tschechoslowakei zur Folge hatte. Deprimierend! Und es sollte noch schlimmer kommen.
Die Weltgeschehnisse wirkten auf sie zunehmend unwirklich, traumartig, als sie im August 1939 endlich ihr Ziel erreichte: Orre, einen kleinen Ort am Meer, wenige Kilometer südlich von Stavanger, wo Sømmes ein Haus besaßen, in dem sie wohnen durfte. Dort gab es auch eine Sina, eine Art Haushälterin, nehme ich an, die sie – wie die anderen Dorfbewohner – misstrauisch beäugte. Was wollte diese Deutsche hier? War sie ein Spion? Ab und zu kam jemand von Gabbis Verwandten vorbei, und Ende September kam Gabbi persönlich. Im Prinzip war sie jedoch die ganze Zeit allein – in einem wildfremden Land, hochschwanger noch dazu und ohne zu wissen, wann sie ihren Zukünftigen wiedersehen würde, ohne zu wissen, wovon sie leben sollten, sobald das für sie gesammelte Geld aufgebraucht war, ohne zu wissen, wann sie ihre Freunde, ihre Schwester, ihr Heimatland, Frankreich wiedersehen würde – und Heini. Denn unmittelbar vor ihrem Aufbruch aus Frankreich erreichte sie das Gerücht, dass er frei – frei! – sein sollte, was eine unbändige Freude in ihr aufsteigen ließ, zugleich aber auch die Sorge – was wird er zu dem Baby sagen? Und – da ist sie wieder – was zu der » bösen Gerri-Geschichte «? Ja, und wie sollte es ihm gelingen, sie hier zu finden? Und was wäre mit Einar?
Aber dann setzte sie die Philosophie in die Tat um, die ihr von Emilie in die Wiege gelegt wurde: Make the best of it . Sie geht schwimmen, sonnt sich, liest und schreibt Briefe, legt Patiencen (wie zuvor in Zürich, Moskau, Kopenhagen und Paris – nur in Pontigny hat sie das nicht getan, wie sie festhält), hört Radio, buchstabiert sich durch die norwegischen Zeitungen und strickt Sachen fürs Baby, das in ihren Gedanken mehr und mehr Raum einnimmt. Die Landschaft ist herrlich, Einar – wieder zurück in Ålsten – schreibt entzückende
Briefe an sie, bald kommt Gabbi, und sie schreibt Briefe an ihre Freunde, die über die halbe Welt verteilt sind. An Peter, der an seinem »Roman« schreibt ( welcher Peter? Welcher Peter? ), an Kahil, Tschü…, an die Kluges, an Leni. Hier fällt es einem leichter, allein zu sein, geht ihr durch den Kopf. Leichter als in Berlin, Moskau oder Paris, hat man doch keine Alternativen vor Augen – nur Ruhe. Ruhe . Und das Vergleicheanstellen, Vergleiche zu anderen, zu anderen Gestrandeten, zu Leni, nimmt großen Raum ein. Wenn sie die Butter für miserabel und zu salzig hält, macht sie sich Vorwürfe: »Meine Sorgen im Augenblick! Sträflich!«
Orre, September 1939 – Warten auf »Baby«.
Dieser aufgeräumte Zustand währte jedoch nur ein paar Tage – dann brach sie zusammen, so wie seit ewigen Zeiten nicht. Holte Heinis Foto raus, das aus Zürich, und weinte wie von allen guten Geistern verlassen über das, was sie verloren hatte – ihren geliebten Mann und die Partei, Heini und die Partei, diese untrennbare Einheit …
Ich werde über uns ein Buch schreiben, denkt sie – zum Trost.
Weitere Kostenlose Bücher