Meine Mutter, die Gräfin
Feinde sind Feinde. Endlich, dann hat sie also doch recht gehabt! Jetzt scheint ein Ende in Sicht zu sein. Sie kann auf ein neues Europa hoffen, darauf, sie alle wiederzusehen. Endlich raus aus dieser Höhle – wieder selbstständig sein, sie selbst sein, eine richtige Arbeit finden, statt sich mit gelegentlichen Übersetzungsaufträgen zu begnügen. Trotz zweier Kinder – das würde schon irgendwie
gehen. Aber da kam ich . 27. Juli 1942: »Ich kriege wieder ein Kind, meine Gedanken kreisen um den Haushalt, ums Einkochen, um Geldschwierigkeiten etc. Und nachts träume ich, dass ich wieder in Moskau bei Heini bin.«
Spaziergang im kalten Frühjahr 1941 während der Bereitschaftszeit. Im Wagen Eili, Sven auf dem Schlitten.
Ihrer kleinen Schwester in Leipzig macht sie per Post ein fast deprimierendes Eingeständnis: »Ich habe mich wirklich nicht gefreut, als ich meine Schwangerschaft bemerkte, wollte ich doch so gerne arbeiten gehen, Geld verdienen und nichts mehr mit den grässlichen Haushaltspflichten, der Kinderwäsche etc. etwas zu tun haben. Stattdessen geht das jetzt wieder von vorne los.«
Sie beißt die Zähne zusammen. Der Herbst erwies sich als lang andauernd und kalt und der Winter entpuppte sich als ein weiterer, ungewöhnlich kalter Kriegswinter. An den Hauswänden stapelt sich das Holz. In diesen Zeiten der Lebensmittelknappheit und Rationierung von Waren griffen sich die Hausfrauen gegenseitig mit Rat und Tat unter die Arme, was man auftischen könne – Butter und Eier waren rationiert (seit dem 24. September 1941 nur acht pro Monat), ebenso wie Kaffee, Gummi und Fleisch, sieh an! Erfinderische Kaufleute nahmen Krähen, Dohlen oder Elstern als Auerhahn in Dosen ins Sortiment auf. Erst recht von der Rationierung betroffen waren Zigaretten und Alkohol – und nur wer männlichen Geschlechts war, bekam die volle Ration …
Tout passe. Auch diese Schwangerschaft. Ob sie wohl denkt, dass sie nun genug »gesühnt« hat? Drei Abtreibungen und drei Kinder? Wendet sie ihr Gesicht zum Himmel und nickt ihrer Mutsch grimmig zu? Bitteschön, hier hast du sie. Jetzt sind wir quitt.
Dann wurde ich geboren. Und sie notiert, notiert Worte in ihr Tagebuch – jenes, das ich aus dem Papierkorb gefischt
habe – Worte, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt hatten, nachdem ich sie in jenem furchtbaren Winter 1966 gelesen habe: »23. 1. 1943: Am 18. 1. um 10.50 morgens bekam ich wieder eine kleine Tochter. 2 920 gr, 47 cm groß. Dunkles Haar, sehr viel Ähnlichkeit mit Gunnar und Arne, meine Hände und Ohren, ziemlich hässlich für den Anfang.« So steht es da, Wort für Wort. Dabei war ich all diese 40 Jahre doch felsenfest davon überzeugt, dass sie geschrieben hatte: » Heute Nacht hab' ich ein hässliches kleines Mädchen geboren. « Aber trotzdem.
Ich versuche, die Worte etwas zu entschärfen: Sie ist natürlich erschöpft, natürlich kommt ihr alles wie ein riesiger Berg vor – so unwahrscheinlich dicht hintereinander, wie sie ihre Kinder bekommen hat. Und sie ist nicht mehr ganz jung, ist 37 geworden – und neugeborene Kinder sind häufig nun mal nicht besonders schön anzusehen –, aber ich sehne mich schmerzlich nach einem kleinen, einem klitzekleinen liebevollen Wort von ihr. Vielleicht verbirgt es sich ja hinter ihren Worten über meine kleinen neugeborenen Hände und Ohren, denke ich? Vielleicht liegt sie da, nimmt dieses kleine verschrumpelte, gerötete Wesen mit seinem dunklen Haarschopf gründlich in Augenschein, untersucht behutsam jedes noch so winzige Detail dieses kleinen Körpers? Und denkt dabei: Wie meine Hände?! Ist es denn überhaupt möglich, eine Ähnlichkeit zwischen den Händen eines Neugeborenen und seinen eigenen zu erkennen?
Die letzte Notiz aus ihrem Tagebuch stammt vom 26. Januar 1943, als sie die Entbindungsstation des St. Eriks Hospitals verlassen durfte – danach verschlingt sie der fürchterliche Haushalt, vereinnahmt sie die Kinderwäsche, die Plackerei mit Gelegenheitsjobs, die Sorge ums Geld, die an den Kräften zehrende ständige Gereiztheit, die sich aus ihrer beengten Wohnsituation ergibt. »Das Baby ist wirklich sehr klein,
braucht eine Frühchen-Weste. Hat eine kleine Wunde an einem Fuß. Aber trinkt kräftig.«
Die vereinte Familie. Kriegssommer 1943.
Ihr Bett im Krankensaal des St. Eriks Hospitals war von einem Meer von Blumen und Karten umgeben – ihr ganzer Freundes- und Bekanntenkreis, den sie sich während dieser Kriegsjahre in Stockholm
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