Meine Mutter, die Gräfin
Familie, das Nesthäkchen, das ihren Bruder Einar vergöttert. Sie ist in einen finnischen Soldaten verliebt, der im weiteren Verlauf des Krieges fallen wird. Als das bekannt wird, setzt sich Charlotte ganz still neben sie, umarmt das verzweifelte Mädchen und zieht einen Ring von ihrem eigenen Finger, um ihn Birgit überzustreifen.
Tout passe, tout passe: Die Kälte, der ständige Geldmangel, das Gefühl völliger Hilflosigkeit und des Eingesperrtseins, die Sehnsucht danach, arbeiten gehen zu können, selbstständig zu sein, ihrer Wege zu gehen. Los! Aber sie kann nirgendwo hin, ist in diesem kleinen Land gleichsam gefangen; einem sozialdemokratischen Land, das unter der Führung von Per Albin Hansson von einer Allparteienregierung regiert wird. Eine Art Backlund-Land, mag sie vielleicht zunächst gedacht haben – nett und treuherzig. Doch nein, es ist schlimmer – Schweden ist ein feiges Land, das sich hinter seiner sogenannten Neutralitätspolitik verschanzt, ein Land, das sich stillschweigend zwischen seinen vom Unglück heimgesuchten Nachbarn duckt und hofft, dass keiner es bemerkt. Eines die
ser Nachbarländer war Finnland, das tatsächlich im Dezember 1939 von der Sowjetunion überfallen wurde ( lächerlich, oder? ). Und während in Helsinki Bomben auf unschuldige Menschen fielen, war Schwedens »Neutralität« erschüttert, es bebte vor Mitleid und erklärte sich nicht länger als »neutral«, sondern als »nicht-kriegsführend«. Der Spendentopf für Finnland wies Rekordsummen auf, schwedische Freiwillige machten sich auf den Weg (8000) und die Finnen ergaben sich erst nach harten Kämpfen, bewahrten ihr Land aber vor einer Besetzung. Was mag ihr durch den Kopf gegangen sein, als im März 1940 der Friedensvertrag unterzeichnet wurde?
Die sozialdemokratische Familie Hirdman. Von links: Einar, Birgit und Maj mit Sven und Gunnar.
Und dann waren da noch Dänemark und Norwegen, die nur einen Monat später, am 9. April, von den Deutschen angegriffen wurden. Während Dänemark sich kampflos ergab, kämpften die Norweger noch bis ins Frühjahr hinein. Char
lotte sorgt sich um Gabbi, die in Bergen Flüchtlinge betreut. Und was, wenn die Deutschen jetzt auch noch in Schweden einmarschieren? Doch nein, das glaubt Charlotte nicht: »Die Schweden sind so raffiniert deutschfreundlich.« Nein, die Deutschen ließen Schweden in Ruhe, wofür die Schweden sie mit Transiten und Eisenerz unterstützen. Etwas, worüber sie – Frau Hirdman – insgeheim nur verächtlich die Nase rümpfen kann.
Eingesperrt. Weitab. Aber trotz allem hat sie wie üblich mal wieder ein sagenhaftes Glück gehabt – trotz allem, im Vergleich zu ihrer kleinen Schwester, zu ihren zahlreichen alten Freunden. Ja, ihr Freundeskreis! Sie sind in ihren Gedanken allgegenwärtig, womöglich fürchtet sie, die Erinnerungen an sie könnten verblassen, zu Träumen verblassen, an die man sich kaum noch erinnern kann. Sie gilt es zu hegen, diese Bilder, diese Erinnerungen.
Eines Abends im April 1940 gehen sie ins Kino und gucken sich Greta Garbo in Ninotschka an.
Sie stählt sich. » Der Film ist ja die reinste Karikatur« , notiert sie in ihr Tagebuch, vermutlich auf dem Toilettendeckel sitzend, vor den anderen hinter der verschlossenen Tür auf Tauchstation gegangen. Aber sie ist erschüttert. Der Inhalt des Films – die Atmosphäre. Und da, ihr Freund, der Schauspieler Alexander Granach aus Berlin oder Zürich, »wie er leibt und lebt«, der einen Abgesandten der russischen Delegation spielt, der nach Paris kommt, um dort russische Juwelen zu Geld zu machen. Das war beinahe wie ein Albtraum: »Das ist ja zum Teil meine Geschichte. Ich habe nichts davon vergessen, es ist so, als ob es erst gestern war, und ich habe gespürt, dass ich damit noch nicht abgeschlossen habe. Der Film verfolgt mich; würde am liebsten mit Tschü… sprechen.«
Sie schließt die Augen, lehnt sich zurück in den Sessel. Vor ihrem inneren Auge tauchen Bilder aus ihrem eigenen
Film auf: Die Fahrt im Auto mit M. (mit wem? Mit der Person, die sie als Kurier, als Spionin »angeheuert« hat?) , der Abschied im Sojusnaja, Heini. Die Gesichter der Verschwundenen – Heinz Neumann, Ottwalt, Ida, Ruth, Grete …
»In Pontigny starb Paul Desjardins, im März 1940. Überall herrscht Krieg, nur hier in Schweden nicht. Hier hat man nicht vor, auch nur ein Scherflein beizutragen – weder Norwegen beizustehen noch sonst etwas zu tun. Hier ist man neutral. Widerlich ist das .« Schreibt
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