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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Zeit lang über Wasser halten konnten. Als es in Berlin allmählich ungemütlich wurde, flüchteten sie nach Neustrelitz, wo sie bis zum Januar 1945 – als alle staatenlosen Deutschen einberufen wurden – blieben und ein ruhig dahinplätscherndes, normales Leben führten.
    Stenbock erlebte das Kriegsende also als Soldat – und wieder weiß er sonderbare Geschichten darüber zu berichten, wie er von seinem Gewehr keinen Gebrauch machte – keine Kugel gegen Arbeiter! –, wie er in Greifswald der sowjetischen Armee gegenüberstand, mit seinem holperigen Russisch ihr Vertrauen gewann und – ja, sogar nach der Kapitulation in Neustrelitz zum Bürgermeister ernannt wurde, was unter den gegebenen Bedingungen – wie der überall herrschenden Not, dem Hunger und der Umerziehung all jener, die nichts gewusst, nichts gesehen haben wollten … – keine sonderlich beneidenswerte Position war. Sie war jedoch nur auf die Dauer eines Monats, des Novembers 1945, beschränkt.
    Auch er landete letzten Endes im anderen Teil Deutschlands, der DDR , und starb im Mai 1972. In der DDR hatte er als Drehbuchautor für die DEFA , die Deutsche Film AG , gearbeitet. So hatte er, der Märchenerzähler, also letztlich seinen Platz gefunden, denn nichts anderes war er schließlich – ein Märchenerzähler.
    Seine Memoiren, die bis zum Dezember 1945 reichen, schließen mit einer philosophischen Betrachtung: Er ist mit dem Fahrrad unterwegs und sieht, wie sich eine Heuschrecke auf seine Lenkstange setzt. Eine Heuschrecke, die sich trotz Wind und Regen auf der Stange hält, was ihm wie ein Omen, ein Hoffnungsschimmer vorkommt. Als sein Blick nach seiner Ankunft an seinem Zielort spätabends aber erneut auf sein Fahrrad fällt, sieht er zwei Heuschrecken auf der Lenkstange sitzen und bemerkt, dass die Größere dabei ist, die kleinere zu fressen. Beklommen holt er eine Lupe, um den Prozess vergrößert zu sehen (warum, kann man sich fragen, hatte er denn nicht schon genug Leid und Tod mit ansehen müssen?). Als er sie so betrachtet, bemerkt er plötzlich, dass es sich gar nicht um zwei Grashüpfer handelt, sondern nur um einen – seine Glücksbotin –, die sich gehäutet hatte und nun nichts anderes als ihre eigene Haut auffraß.
    Anstelle des Bildes, das er sich stets von der Menschheit gemacht hatte – der eine vernichtet den anderen –, rückt nun ein anderes Bild – »Man kann seine alte Haut ablegen, sich verwandeln, ohne sich selbst untreu zu werden«. Ein Gleichnis zur Illustration der Menschheit. Für mich ist das das Bild, das ich von Alexander Stenbock-Fermor habe.
    Die Reiseleiterin
    Sie – Charlotte Ida Käthe Marie Hirdman, geborene Schledt, ehemalige Gräfin Stenbock-Fermor – brach auf, sobald es ging. Im Sommer 1947. Mit ihrem großen, breitkrempigen Hut fuhr sie als Reiseleiterin, Dolmetscherin und Touristenführerin mit einer Gruppe Schweden auf und davon in das fremd anmutende, zerbombte Europa. Schweden, die nach der sechs Jahre währenden Isolation wie ausgehungert nach allem waren. Die Reise mit Zug und Bus ging über Hamburg und Osnabrück nach Paris. Da sehe ich sie – wie ein Strich in der Landschaft, pflegte meine Oma Hirdman im
mer zu sagen – in einer Bluse und langen Hosen vor dem Bahnhof von Osnabrück – glaube ich – stehen, der gerade wieder aufgebaut wird. Sie wirft einen langen Schatten. Die Begegnung mit diesem von Armut gezeichneten und in Stücke gerissenen Europa muss sie in tiefe Verzweiflung gestürzt haben.

    Charlotte in Osnabrück.

    Gerade eben hat sie ihre Schwester wiedergesehen – ihre letzte Begegnung, damals, im Paris der Vorkriegszeit, ist nunmehr fast zehn Jahre her. Sie hatten sich in Hamburg getroffen, in dem schönen Jugendstilgebäude ihrer Verwandten
in der Sierichstraße 154, das wie ein Wunder von den Bomben verschont geblieben war, während von den anderen Häusern nur noch leere Hüllen übrig waren – wovon Eili und ich uns selbst überzeugen konnten, als wir uns zwei Sommer später im Jahr 1949 dort aufhielten und ich mich weigerte, deutsche Butter zu essen.

    Wiedersehen der Schwestern.

    Lottie und Leni. Sie drückt ihre kleine magere, kranke Schwester fest an sich, fasst nach ihren Händen. Ach, Leni, sagt sie. Sorgst du auch für dich? Isst du genügend? Schläfst du auch? Musst du denn unbedingt nach Leipzig zurückfahren? Willst du nicht mit mir nach Schweden kommen?, so sagt sie vermutlich. Da bin ich mir so gut wie sicher.

    Sie schickte Pakete an Mimi und

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