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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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wieder einmal aufgebaut hatte, sandte ihr Glückwünsche. Meine guten Feen, denke ich: Kathleen (eine Cousine? Tante Charlottes Tochter?), Inga Backlund, Gabbi, Berthold (?) und Lillemor Tillgren – ihre neue beste Freundin, die wie eine Patentante für mich war. Und sie schöpfte Mut:

    »Das wird schon gehen, wenn wir erst einmal eine größere Wohnung haben. […] An der russischen Front haben die Russen Erfolge zu verbuchen, während die Deutschen, begleitet von großen Kämpfen, überall auf dem Rückzug sind.
     Sie geben jetzt die Parole aus, dass das Volk alle Kräfte mobilisieren müsse, um für den Sieg zu kämpfen, wenn nicht der Bolschewismus, d.h. die Vernichtung siegen soll – wie lange wird diese Propaganda noch Wirkung zeigen? Auch in Afrika werden sie aus den von ihnen vormals eroberten Gebieten vertrieben. In den besetzten Ländern wird der Terror natürlich noch zunehmen, und die unterdrückten Völker werden noch mehr hungern müssen. Wann hört es endlich auf?«

    Es klingt wie ein Tenor von Emilies Worten, ihren Worten vom Herbst 1918: Wann gibt es endlich Frieden?
    Frieden
    Es hörte auf. Das Konfetti wirbelte wie Schneeflocken durch die Luft. Vielleicht ging sie damals, im Mai 1945, ja gerade mit einer Aktentasche in der Hand und dem eigenartigen Gefühl, erwachsen geworden zu sein, die Kungsgatan entlang? In Bromma, im Tunnlandsvägen in der winzigen Zweizimmerwohnung mit Küche und Essecke, erwartete sie ihre kleine Familie – in guten wie in schlechten Tagen: Sven, Eili, Yvonne – in dieser Reihenfolge, dieser Aufzählung. Und ihr Ehemann, ihr Mann – der junge – der immerhin … Obwohl vor allem sie mit Übersetzungen das Geld verdient, mit Dolmetschaufträgen auf Deutsch, Englisch, Französisch und Schwedisch, mit Sprachunterricht. Beispielsweise mit Sprachunterricht für deutsche Flüchtlinge, ehemalige KZ -Häftlinge, die nach Schweden und zum Arbeiter-Bildungsverband an der Kreuzung Vasagatan/Bryggargatan kommen. Und jetzt beginnt der Wiederaufbau, jetzt wird die Isolation, diese albtraumhafte Isolation gebrochen, jetzt kann sie wieder Kontakt zu den zerbombten, in Trümmern liegenden Ländern Europas aufnehmen, jetzt kann die Suche nach ihren Freunden losgehen – Pakete werden nach Leipzig, Ber
lin und nach Hamburg geschickt: Pakete mit Kaffee, Schokolade, Nylonstrümpfen. Alles, was sie entbehren kann, schickt sie ihnen – den zum zweiten Mal zutiefst gedemütigten, vernichtend geschlagenen Deutschen.

    Leni hatte den Krieg überlebt – aber was hatte sie währenddessen gemacht ? Ich hole die Mappe mit ihren Papieren raus, die bis heute ungelesen liegen geblieben ist. Darin finde ich einen Lebenslauf, der ihre Anstellungen und Ausbildungen auflistet. Eine Übersicht, um die man sie vor ihrem Umzug in den Westen, in das Seniorenwohnheim in der Blumenstraße, gebeten hatte. Stück für Stück arbeite ich mich durch ihren Lebenslauf. Leider hat sie ihn von Hand geschrieben – die Rede ist von ihrer Handschrift –, aber als ich die Worte endlich entziffert habe, ist es, als ob ein darüberhängender Schleier weggezogen worden wäre – plötzlich kommt Leni mir gar nicht mehr so schwer fassbar, so düster und rätselhaft vor:
    1915-1923 besuchte sie die Schule,
    1924-1926 ging sie auf eine Kunstweberei (und Hausindustrie-)Schule in Rumänien.
    1926-1928 arbeitete sie bei ihrem Vater als Buchhandelsgehilfin.
    1929 war sie irgendwo in Schlesien als Haushälterin bei Dr. med. Finkl beschäftigt, danach in Baden-Württemberg.
    1939-1932 arbeitete sie als Kunstweberin (ach ja?!) in Radautz.
    Schon 1933 stand indessen da schon Haustochter . Ob sie deshalb wohl verbittert war?
    Und danach, was war dann?
    1935 war sie krankgeschrieben und ohne Festanstellung.
    1935-1938 arbeitete sie – was Fritz Lottie ja auch geschrieben hatte – als Sozialreferentin beim NS -Jugendverband Bund Deutscher Mädel in Leipzig.
    Ja, und dann? In einem Empfehlungsschreiben, das ihr am 30. Juni 1945 ausgestellt wurde – zwei Tage bevor die sowjetischen Truppen die Stadt von den Amerikanern übernahmen, die dort seit dem April stationiert gewesen waren –, erfahre ich, dass sie zwischen Februar 1938 und Juni 1945 in der Leipziger Wollkämmerei – einer Textilfabrik? Die Uniformen hergestellt hat? – als Bürokraft in der Personalabteilung gearbeitet und sich um die dortige Bibliothek gekümmert hat.
    1942 besuchte sie auf Anordnung des Roten Kreuzes für ein paar Wintermonate einen kurzen

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