Meine Mutter, die Gräfin
Maria – ihre Freundinnen aus dem Sommer 1932 in Utersum –, und Maria, die in Hamburg wohnte, berichtet von eilig verabredeten Treffen, wenn Charlotte mit einer Busladung verrückter Schweden auf der Durchreise war: Alle tranken, auch der Chauffeur, und Mamas heisere Stimme – Kannst du ins Restaurant Soundso kommen, ich hab' eine Stunde frei …
Und Mimi sei in Berlin Alexander über den Weg gelaufen, der ihr Charlottes Adresse gegeben habe; er habe Mimi auch das Fotoalbum von ihrem herrlichen Sommer auf Utersum
mitgegeben. Es sei das Einzige gewesen, das er von ihren Sachen habe retten können.
Ich weiß allerdings nicht, ob sie ihm jemals wieder begegnet ist. Oder ob bzw. wie lange sie sich noch geschrieben haben. Oder mit wem sie darüber hinaus wieder Kontakt aufgenommen hat. Es ist nichts mehr da – ab meiner Geburt verschwanden alle Quellen. Alles, was geblieben ist, sind ihre kleinen Taschenkalender. Aber wo sind ihre ganzen Briefe, ihre Korrespondenz – nicht einmal Lenis Briefe existieren noch – und ihre unzähligen richtigen Tagebücher? Hat sie sie selbst weggeschmissen oder war das Papa? Und wenn das so ist, weshalb ist dann ein Teil aufbewahrt worden? Zufall, denke ich. Alles nur Zufälle. Ich weiß also nicht, ob sie Alexander oder Gisela jemals wiedergesehen hat, oder den geheimnisvollen Tschü… oder Alexander Kahil oder Madame Desjardins oder die Kluges oder Els und Erni oder Blatschek oder Weisskopf oder »Peter« oder … Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, dass sie von 1947 an jeden Sommer als Reiseleiterin für RESO , das Reisebüro der Arbeiterbewegung, unterwegs war. Ihr abgegriffener Reisepass, der am 18. April 1947 ausgestellt wurde, ist mit Stempeln übersät. Wild durcheinander sind Ankunfts- und Abreisedaten auf die Seiten gestempelt worden – Stempel, die sie an den innereuropäischen Grenzposten in den frühen Nachkriegsjahren erhalten hat. Und dann diese Menge an Fotos! Ich sortiere sie nach Jahreszahlen: Auf die Reise nach Paris im Jahr 1947 folgte im Jahr darauf die Reise nach Sestri Levante weit oben in der Bucht von Genua, eine Reise mit Zug, Fähre und Bus – im Zug durch die Schweiz –, dann 1949 Paris-Montmartre, 1950 Rom, 1951 wieder Rom und Paris, 1951 Basel, ganz Europa 1952 ( Charlotte – Reise durch 7 Länder 31. 7.-17. 8. – danke für die wundervolle Fahrt! ), 1953 Bremen, Frankreich – La Brévière.
Alle wollten raus – die Reiseleiterin tanzt irgendwo in Europa.
Eine anstrengende, eine verantwortungsvolle Arbeit. Sie begleitet sie die ganze Fahrt. Ich finde den Reiseplan für eine Busreise nach Österreich – Jahreszahl unbekannt. Abfahrt von Helsingborg am 16. Mai – die Leute reisten mit dem Nachtzug von Stockholm an, als sie aus dem Zug stiegen, wartete schon abfahrbereit der Bus auf sie. Mittagessen auf der Fähre. Übernachtung und Abendessen in Sonderburg, und dann ging's weiter quer durch Deutschland – nach Hamburg, wo im »Haus Vaterland« das Mittagessen auf sie wartete, und dann weiter nach Hannover, Frankfurt, München – Wien. Und wieder zurück.
Während sich Europa im Wiederaufbau befindet – was trotz allem ziemlich rasch vonstattengeht –, reist sie mit
Horden von Schweden durch die Lande. Schweden, die wie ausgehungert sind – die nicht nur nach Wein und Alkohol gieren, sondern nach allem, was »ausländisch« ist: der weißen Teigfüllung von Baguettes, Pommes Frites, blutigen Beefsteaks, Musik, Chansons, Sonne und Wärme – die ausgehungert sind nach einem anderen Leben, sofern es bloß kein fades schwedisches ist. Da steht sie, in ihrem karierten Rock, den ich später erben durfte, steht da mit ihrem Strohhut auf dem Kopf – den mit den schwarzen Samtbändern und der schwarzen Krempe aus Samt; und immerzu hält sie eine Zigarette in der Hand, während sie gestikuliert, im Bus ins Mikrofon spricht, in Cafés sitzt oder draußen im Grünen, auf einer Fähre, am Mittagstisch oder auf dem Bahnsteig tanzt oder ihre Gruppe wie eine Entenmutter vorwärtsdirigiert.
Und so ging das jeden Sommer . Eili, Sven und ich wurden derweil mit einem Zettel um den Hals zu netten – und weniger netten – Menschen in Småland oder Gnesta geschickt. Kinderlandverschickung. Wir sollten uns auf dem Lande »erholen«: fette Milch, karierte Tischdecken und süß schmeckende Stullen mit eklig viel Butter drauf. Kühe, die von Hand gemolken wurden, und richtige Pferde. Wenn wir Glück hatten, konnten wir zusammen fahren, Eili und ich.
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