Meine Mutter, die Gräfin
Aber nie mit Sven.
( Charlotte! Du warst auf der Reise wie eine Mutter zu uns, eine angenehme Spielkameradin in La Brévière und eine vortreffliche Dolmetscherin bei den Führungen. Danke! )
Der einzige Sommer, an dem wir als Familie verreist sind, war der Sommer 1957, soweit ich mich erinnern kann. Da sind auch wir durch Europa gefahren, mit dem Auto: durch Schweden, Dänemark, Deutschland, Italien, Frankreich, Belgien und Holland …
1964 auf dem Arbeiterkongress der Bekleidungsindustrie.
Es gab auch andere Aufträge, als Dolmetscherin und Übersetzerin war sie auf zahlreichen Gewerkschaftskongressen im Einsatz, die im Nachkriegseuropa nahtlos ineinander übergingen. Jedesmal kam sie mit noch heisererer, angegriffenerer Stimme und mit einem Berg von Geschenken beladen nach Hause – mit unseren hübschen, rosenbedruckten Sommerkleidern aus der Schweiz zum Beispiel. Eilis Rosen waren rot, ihre blau und meine gelb. Ich liebe gelbe Rosen.
Die Aufträge bekam sie vor allem von der schwedischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, durch Kontakte, die sich über Gunnar Hirdman und Sven Backlund ergeben hatten. Sie hatte wahrlich und wahrhaftig ins kulturelle Herz der Arbeiterbewegung eingeheiratet. Was also wurde aus der »roten Gräfin«? Eine schwedische sozialdemokratische Frau? Oder was?
1950. Die versammelte Familie in der neuen Wohnung im Cigarrvägen.
Was mag ihr durch den Kopf gegangen sein, als sich die Kommunisten Osteuropa unter den Nagel rissen? Wie stand sie zur DDR ? Welche Position vertrat sie im Kalten Krieg? Was war ihre Meinung zum »dritten Weg« – der weder das stalinistische System der Sowjetunion noch das kapitalistische der USA akzeptierte? Fand sie ihn »feige«? Typisch schwedisch? Hat sie insgeheim darüber die Nase gerümpft? Behielt sie ihre »Überzeugung« für sich? Glaubte sie in ihrem tiefsten Innern – so tief, dass sie selbst nicht einmal davon wusste –, dass Heini vielleicht doch noch am Leben war? Stellte diese gründlich verstaute, in die hinterste Ecke gestopfte Überzeugung den Antrieb für diese rastlosen Reisen dar?
Ich kann mich noch an unser aller Empörung erinnern, als 1956 der Volksaufstand in Ungarn ausbrach. Wir saßen in Malmberget vor dem Radio – es war die erste politische Begebenheit meines Lebens. Leidenschaftlich verfolgten wir
die Ereignisse. Ich kann mich an nichts anderes erinnern, als dass wir – wie sollte es auch anders sein! – zu den Aufständischen hielten. Dass die Sowjetunion für die Bösen standen. Hieß es damals nicht auch »die arme Leni« ? Die arme Leni, die drüben, auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs, leben musste? Und wie hat Mama wohl 1961 auf den Mauerbau reagiert? Ob sie geweint hat?
Die letzte Reise
Was folgt, ist eine andere Geschichte. Die Geschichte über meine Familie – meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder und meine Schwester. Sie handelt davon, wie wir aus der kleinen Zweizimmerwohnung im Tunnlandsvägen ausziehen, wo wir Kinder das große Zimmer bewohnten und zu dritt auf der Ausziehcouch schliefen: In der Mitte Eili, die Sven und mir Märchen erzählte, wenn Mama und Papa uns abends allein ließen, um an der Volkshochschule zu unterrichten …
Danach bezogen wir eine Vierzimmerwohnung mit Küche im Cigarrvägen 9 in Hökarängen, wo alles nach nassem Mörtel und frischgeteertem Asphalt roch. Die bekamen wir, nachdem Papa zum Wohnungsamt gegangen war und das Fräulein, das dort saß, gebeten hatte, einen roten Strich unter unserem Namen zu ziehen – Hirdman . Von da an ging alles ganz schnell, obwohl Wohnungsmangel herrschte, sodass wir schließlich mit unseren paar Sachen in einem Lastwagen durch die Stadt brausten, bis weit hinaus in die südlichen Vororte, wo die Häuser drei Etagen und eine raue Fassade hatten, aber jede Tür ein individuelles Muster.
Danach, als Papa endlich mit seinem Deutschstudium fertig war, zogen wir in den Norden nach Malmberget, wo mein Vater endlich anfing, Geld zu verdienen. In Malmberget bekam man noch dazu eine Art Landzuschlag, was dazu führte, dass dort jede Menge ausgedienter älterer Semester aus Lund
und Uppsala an den Gymnasien unterrichteten und meine Mutter nach den Jahren der Schufterei und der Last, eine Familie zu ernähren, endlich kürzer treten konnte – das war auch der Moment, an dem wir goldblaue Gardinen bekamen, es in der Küche, die nach Norden zeigte, köstliches Abendessen gab und sie Angina pectoris bekam.
Dann zogen wir aufs Neue
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