Meine Mutter, die Gräfin
Handvoll Damen – interessieren könnte.
Die Stimmen des kulturellen Sankt Petersburg müssen nicht zuletzt auch in diesem Teil des Russischen Reiches vernommen worden sein, da die Hauptstadt doch in nächster
Nähe lag und Dorpat und Riga von der kulturellen Elite auf dem Weg von oder nach Berlin, Paris, München, Wien, Budapest und Sankt Petersburg durchfahren wurden.
Womöglich drängte sich die Bruderschaft des Deutschen Echos in der kleinen Wohnung und rezitierte Gedichte, stell' ich mir so vor – abendliche Treffen der Boheme bei Tee und Gebäck, an denen Korfiz Holm, der Tolstoi-Übersetzer, über das literarische Sankt Petersburg erzählte und unmittelbar vor Emilies schönen, träumerischen Augen aus eigenen Übersetzungen von russischen Symbolisten wie Andrej Belyj las – dem »Propheten« des symbolistischen Kreises Die Argonauten (er schrieb einen Roman mit dem Titel Petersburg ) – oder auch Gedichte von Alexander Blok.
Mag sein, dass auch laut aus dem utopischen Roman Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschen des damals heiß diskutierten russischen Idealisten und Sozialisten Tschernyschewski vorgelesen wurde, oder war er vielleicht doch zu verwegen? Seine Aussage war schließlich, dass die Liebe keinen Bestand habe, wenn die Frau nicht frei und selbstständig sei und einer eigenen Arbeit nachgehe – dass man erst dann wirklich lieben könne … Was, wenn sie Tschechows Der Kirschgarten lasen? Mit verteilten Rollen?
Ja, ich gebe zu, ich romantisiere hemmungslos, bin gleichsam wie verliebt in diese Bilder, die ich mir von der kleinen Wohnung, dem Städtchen, von den beiden Eheleuten, der Gans, den Gedichten, ja, dem politischen Donnergrollen im Hintergrund ausmale. Es ist so, als würde ich mich ausdehnen, als würde mir eine zweite Hautschicht wachsen – Hornhaut –, eine schützende Hülle rings um meine Seele.
Sieh an, sieh an, so einfach also lassen sich durch diese kurzweiligen Abende der Regen, die Kälte, der Geldmangel, die Sorgen, die Krankheiten, die Streitigkeiten und nicht zuletzt der bittere Geschmack der Einsamkeit dem seligen Vergessen preisgeben, sinniere ich – weil Fritz nicht erkennt,
wonach seine Frau sich wirklich sehnt. Denn den muss es bestimmt auch gegeben haben – diesen Geschmack.
Und was waren sie nun? Ein junges, kulturradikales, nicht gläubiges, politisch jedoch ziemlich konservatives Paar. Mit unverrückbaren Vorstellungen darüber, was männlich und weiblich ist. Ein Mann ist ein Mann – er hat für seine Familie zu sorgen –, und eine Frau, ja – was ist eine Frau? Eine bunte Mischung aus einer duftenden, andersartigen, verführerischen Gattung – einer gefährlichen Blume, einer Femme fatale – und der im Alltagsleben verorteten guten Mutter, Schwester, Geliebten, Köchin etc. Über jeden Zweifel erhaben ein untergeordnetes und sich einfügendes Geschöpf. Am 3. Januar 1906, ihrem Hochzeitstag, der zugleich ihr Geburtstag ist, verkündet Emilie feierlich in ihrem Tagebuch – und dies sollen auf lange Zeit die letzten Worte sein, die sie dort hineinschreibt: »Ich bin verheiratet. Emilie Redard ist verschwunden, Emilie Schledt erblickt das Licht der Welt. Gebe Gott, dass ich Fritz eine würdige, treue Begleiterin und Dienerin sein werde.«
Und doch schreiben und lesen sie, gehen mit der Zeit – und begreifen sich als moderne, neue Menschen. Da bin ich mir sicher. Und der Radikalismus wird auch ihre Einstellung zur Erotik geprägt haben. Ihr gemeinsames Bekenntnis – ja, ganz genau, jetzt fabuliere ich wieder –, ihr Bekenntnis zur Liebesdoktrin, mit dem auch die schwedische Reformpädagogin und Schriftstellerin Ellen Key den jungen Mädchen den Kopf verdrehte: dass es ausschlaggebend sei, dass man wirklich verliebt sei und man das Glück der Sexualität nur genießen könne, wenn es wahre Liebe sei. Und dass eine lieblose Ehe nicht viel besser als Prostitution sei.
Kind der Liebe
Ich zähle an den Fingerspitzen ab – sie wurden Anfang Januar 1906 getraut und Emilie brachte ihr kleines Mädchen am 20. September desselben Jahres zur Welt. Na ja, es wäre möglich, aber es könnte auch ebenso gut so gewesen sein, dass sie schon während ihrer Verlobungszeit aufgrund der legitimierenden Kraft ihrer Liebe aneinander Vergnügen gefunden haben. Ein Kind der Liebe ist es allemal. Aus Emilie, die im Jahr zuvor noch das Gefühl hatte, dass das Leben an ihr vorbeizöge – 22 Jahre alt und nur Bücher als Freunde –, ist nun eine verheiratete Frau
Weitere Kostenlose Bücher