Meine Mutter, die Gräfin
Leben aufschreibt, handelt ein ganzer Bogen Papier fast ausschließlich von Möbeln – von denen, die wegen des Aufbruchs von Dorpat eingelagert wurden, von den hässlichen Stücken, die sie von Fritz' Mutter geerbt hatten, und von den schönen Möbeln, die sie bedauerlicherweise in Radautz zurücklassen mussten: »Sie waren moosgrün und altrosa und machten sich prächtig zu meinen glänzenden, kastanienbraunen Haaren.«
Und so kehren sie, als sie nach der Eheschließung am 3. Januar 1906 das Atelier des Fotografen verlassen und nach Hause gehen, nichtsdestotrotz in einen wohlgeordneten Haushalt ein. Sie konnten eine winzig kleine Wohnung über der netten Bergmann'schen Buchhandlung mieten und dort – so erinnert sich Fritz in seiner Zelle –, dort habe es alles gegeben, was ein Bürgerheim auszeichnete – wenngleich in Miniatur. Mit den drei kleinen Zimmern, dem Flur und der Halle hätte es wie in einer Puppenstube ausgesehen. Sie hätten sogar ein Dienstmädchen, eine Lisa, gehabt – vermutlich ebenfalls im Kleinformat.
Um das kleinbürgerliche Regelwerk zu vervollständigen, bedurfte es begreiflicherweise auch des entsprechenden Essens: warme Mahlzeiten, zu festgelegten Zeiten. Und folgerichtig wurde in Fritz' Memoiren aus ihrer ersten Zeit in Dorpat auch das Essen erwähnt: eine Gans. Eine Versöhnungsgans vielleicht? Nach der vierzehntägigen Eiszeit zwischen den Eheleuten, weil er sich erdreistet hatte, sich einfach den Schnurrbart abzurasieren? Was hat sie damals in seinem jungen, nackten Gesicht gesehen? Eine Schwäche, die sie nicht ertragen konnte? Oder handelte es sich ganz einfach nur um eine Übung in gehobener Küche – die der neue Wirkungskreis seiner jungen Gattin werden sollte, auch wenn sie nebenher als Sprachlehrerin arbeitete?
Das Zubereiten von Gänsen gehört zweifelsohne zu den fortgeschritteneren Übungen. Ob sie das schon zu Hause in Auvernier gelernt hatte? Oder hatte sie ihr Kochbuch aufgeschlagen neben sich liegen gehabt? La Cuisine Française, L'art du bien manger, 1500 Recettes – Die Französische Küche, Die Kunst des guten Essens, 1500 Rezepte. Ob Lisa ihr geholfen hat? Standen sie womöglich mit gerunzelter Stirn da und studierten die Rezepte? Entschieden sich zwischen gedämpfter Gans – »Überbrühen Sie die Gans, nehmen Sie sie aus, putzen Sie sie und füllen Sie sie mit einer geschmackvollen Farce aus gehacktem Schweinefleisch, in Milch geweichter Brotkrume und Petersilie: Nähen Sie die Öffnung zu, binden Sie die Gans mit Küchengarn zu, salzen Sie sie fein und legen Sie sie nebst Schmalz und Gemüse in einen Bräter, gießen Sie einen Liter Wasser hinzu und dämpfen Sie die Gans gut zugedeckt eineinhalb Stunden« – oder gebratener Gans mit Kastanienfüllung? Hör doch, Lisa! Die nehmen wir:
»Wenn die Gans ausgebeint ist, hacken Sie die Leber fein und braten Sie sie zehn Minuten zusammen mit der Schin
kenbrühe und den fein gehackten Zwiebeln an. Dann fügen Sie die zuvor gerösteten und geschälten Kastanien und die Gewürze (Zucker, Lorbeerblatt, Salbei) hinzu und schmoren alles eine halbe Stunde auf leichter Flamme. Wenn die Mischung nahezu abgekühlt ist, füllen Sie die Gans damit und nähen Sie sie gründlich an beiden Enden zu. Bedecken Sie die Gans mit einem gebutterten Papier, das Sie mit Küchengarn zusammenhalten, übergießen Sie sie mit dem ausgekochten Sud und braten Sie dieselbe im Ofen.«
An diese Gans konnte sich Fritz noch erinnern, an den Duft, der ihm entgegenschlug, wenn er nach Hause kam, an den Wein, den er eilends dazu erstand.
Möbel und Essen. Petite bourgeoise . Sie orientierten sich (wie ich annehme) an einer liberalen Gesellschaftsordnung und am deutschen Bildungsideal. Waren vermutlich nicht sonderlich gläubig, denn in den noch existierenden vergilbten, zerknickten, an den Rändern zerfledderten Papieren finden sich nicht viele Spuren von Gottesfurcht. Dass sie kirchlich getraut wurden und ihre drei Kinder – Charlotte 1906, Otto 1908, Helene (Leni) 1909 – taufen ließen, war vielmehr ein Zeichen der Normalität; alles andere hätte Aufsehen erregt.
Gleichzeitig aber färbten die Umwälzungen jener Zeit und der Radikalismus auf sie ab – so liest Emilie ihre »symbolistischen« Dichter und Fritz hält sich in seiner Buchhandlung über die neuesten kulturellen Strömungen à jour – es galt immerhin, den Kunden um eine Länge voraus zu sein; zu wissen, was die Welt bewegte und was die Herren – und eine kleine
Weitere Kostenlose Bücher