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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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aufgezogen. Es war, als wolle man das ›schändliche Zwischenspiel‹ – d.h. der Demokratie – von einem Augenblick auf den anderen aus der Geschichte auslöschen. Und wie um diese Bemühung noch zu unterstreichen, bot in einem Torbogen ein fliegender Händler Postkarten mit Bildern der kaiserlichen Familie und der gesamten Generalität der wilhelminischen Ära feil.«

    Und dann springt ein alter Mann mit einem langen weißen Bart und einer am Rockaufschlag befestigten schwarz-weiß-roten Kokarde aus der Zuschauermasse und hält eine Verteidigungsrede für die alte Ordnung – grotesk, wie sie findet, es sehe aus, als ob ihn jeden Augenblick der Schlag treffen könne, während sich ringsum auf dem Potsdamer Platz die Menschen drängen, die wie an einem Feiertag gekleidet sind, als wüssten sie Bescheid, was sie erwartet. Und es sind keine Berliner, oh nein. Sie tragen grüne Joppen, Gamsbärte auf den Hüten und haben sonnengebräunte Gesichter – die Gutsbesitzer aus dem Berliner Umland haben Morgenluft gewittert und brüllen: »Die Erzberger-Scheidemann-Bande muss ihren eigenen Mist fressen, bis sie daran erstickt …!«

    Die junge Frau, die diesen Samstag, den 13. März 1920, in Berlin schildert – diese Ereignisse, die als Kapp-Putsch in die Geschichte eingegangen sind und einen Versuch darstellten, die noch junge Weimarer Republik zu stürzen, was jedoch misslang, weil zum Generalstreik aufgerufen wurde und die beiden Putschisten Kapp und Lüttwitz nach Schweden geflohen waren –, heißt Margarete Thüring. Sie ist neun
zehn Jahre alt und wird meiner Mutter in Berlin, Zürich, Moskau und Stockholm begegnen. Die Rede ist von Grete, oder Margarete Buber-Neumann, wie sie später heißen wird.
    Dieser Putsch – der also misslang – kam von Rechts. 1919, im Jahr zuvor, hatte die revolutionäre Linke ihrerseits kurze, misslungene Putschversuche inszeniert. Und vor dem Hintergrund dieser sozialen Umwälzungen also erblickte folglich die Weimarer Republik mit ihrer hochmodernen demokratischen Verfassung und ihrem allgemeinen Wahlrecht – ja, sogar für Frauen – das Licht der Welt. Jene Republik, die im März 1933 nach 14 krisengeschüttelten, katastrophenreichen Jahren, die von Putschversuchen, Mord und Inflation geprägt waren, gestürzt werden wird …
    Der Friede von Versailles
    Ich bringe jetzt viel Geschichte. Das Land, das keine Geschichte hat, kann sich glücklich schätzen, denke ich so bei mir. Der Friede von Versailles war eine Katastrophe, darüber herrscht kein Zweifel. Dass das Deutsche Reich Europa in den Krieg gestürzt hatte, darüber waren sich alle einig – na ja, bis auf ein paar Deutsche eben. Jetzt sollte von den Siegern das Strafmaß festgelegt werden, jetzt sollte der Stachel der Demütigung ins deutsche Fleisch getrieben werden, die Deutschen erniedrigt werden, die damals – vor fünf Jahren, im August 1914 – noch darüber gejubelt hatten, sich in das Kriegsgetümmel begeben zu können und sich dort »wie echte Kerle« zu gebärden.
    Und die Strafe war hart. So hart, dass viele darin eine der Hauptursachen für die nächste große Katastrophe des 20. Jahrhunderts, den Zweiten Weltkrieg, sehen wollten. Aus dem einst so stolzen Kaiserreich wurde ein kräftig zurechtgestutztes Deutsches Reich: Elsaß-Lothringen wurde Frankreich, Nordschleswig Dänemark, Posen und Westpreußen
der neugegründeten Republik Polen zugeschlagen. 13,5 Prozent des deutschen Territoriums gingen verloren und damit auch 10 Prozent der Bevölkerung und 15 Prozent der Produktionsgebiete.
    Das Rheinland sollte entmilitarisiert werden, den Luftstreitkräften und der Handelsflotte praktisch der Garaus gemacht und die Truppenstärke auf ein Minimum – 100 000 Mann – reduziert werden. Und dann die Reparationszahlungen. Hier erweisen sich die Franzosen unter der Führung von Georges Clemenceau als unerbittlich:

    »Meine Herren Delegierten des Deutschen Reiches! Es ist hier weder der Ort noch die Stunde für überflüssige Worte. Sie haben vor sich die Versammlung der Bevollmächtigten der kleinen und großen Mächte, die sich vereinigt haben, um den fürchterlichsten Krieg auszufechten, der ihnen aufgezwungen worden ist. Die Stunde der Abrechnung ist da.«

    Ministerpräsident Clemenceau kostet die Süße des Augenblicks genüsslich aus – das sei eine » belle journée «, ein wunderbarer Tag für den alten Tiger gewesen, wie es der englische Diplomat Harold Nicolson in einer berühmt gewordenen Schilderung

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