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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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Putsch zu verhindern, und mit der Geburt der Republik platzte auch der Traum von einer Spielart der deutschen Monarchie, worauf der Wegbereiter für den Übergang und Sozialdemokrat Friedrich Ebert seine Hoffnungen gesetzt hatte. Für die Kommunisten war das der erste Betrug – dass Scheidemann und Ebert den Volksaufstand verhindert hatten. Im Januar 1919 spitzt sich unterdessen die Lage immer mehr zu. Am 5. Januar rufen die Spartakisten (die KPD , USPD und die Revolutionären Obleute) in Berlin zum Aufstand auf, und einer Quelle zufolge demonstrierten 700 000 Menschen auf den Straßen. Und in Bremen wird fünf Tage später die Räterepublik ausgerufen, die aus den vereinten unabhängigen Sozialdemokraten und den Mitgliedern der neuen kommunistischen Partei bestand.
    Am 15. Januar wird der Aufstand in Berlin niedergeschlagen. Die Führer des Spartakusbundes Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet, mit der Folge, dass am 4. Februar
die Räterepublik in Bremen zerschlagen wurde. Hinter der »Zerschlagung« (wie es immer heißt – ich habe das Geräusch geradezu im Ohr) steht die sozialdemokratische Regierung, und hier vor allem der Reichswehrminister Gustav Noske, der nicht gegen die Freikorps einschreitet – Horden von Soldaten, die später den Grundstock für die SA und die SS legen sollten.
    Also wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet. Zuvor waren sie von der Staatsmacht verhaftet und in das Foyer des Hotels Eden (Hauptquartier der Freikorps) verschleppt worden, und als Rosa Luxemburg ins Moabitgefängnis überführt werden sollte, wurde sie von einem Freikorpsoldaten bewusstlos geschlagen und dann von Oberleutnant Vogel auf der Fahrt im Auto erschossen. Ihre Leiche wurde in den Berliner Landwehrkanal geworfen. Liebknecht wurde von hinten in den Kopf geschossen und der Leichnam als unbekannt in einem nahe gelegenen Leichenschauhaus abgeliefert.
    Der Kapp-Putsch
    Und so einem Freikorps begegnet der junge Stenbock, als er aus der Linden-Passage mit ihren erdrückenden Gerüchen und Bildern tritt. Es ist die Brigade Ehrhardt: Soldaten mit Stahlhelmen, auf die sie in weißer Farbe große Hakenkreuze gezeichnet hatten. Eine Abteilung mit aufgepflanztem Bajonett sang marschierend, und Stenbock erinnert sich an die Worte:
    »Hakenkreuz am Stahlhelm
    schwarz-weiß-rotes Band
    die Brigade Ehrhardt
    werden wir genannt.«

    Womöglich eilt dort auf der Straße gerade eine junge Frau an ihm vorbei. Und ihre Geschichte ist detaillierter, vielleicht sogar glaubwürdiger. Es ist Samstag, wie wir erfahren, Samstag, der 13. März 1920, und sie ist mit dem Stadtbahnzug von Potsdam nach Schöneberg in die Stadt gefahren. Der Zug hatte wie üblich Verspätung, was aber zum grauen Alltag der Nachkriegszeit gehörte: verspätete Züge, Streiks, Brotkarten, amerikanischer Speck und die Quäkerspeisung. Sie denkt jedoch nur daran, dass Samstag ist, sie einen freien Nachmittag und einen ganzen herrlichen Sonntag vor sich hat und nach der Berufsschule – sie macht eine Ausbildung zur Kindergärtnerin am Pestalozzi-Fröbel-Haus – mit ihrem Freund Fritz an der Friedrich-Wilhelm-Universität (später Humboldt-Universität) verabredet ist. Doch als sie nach der Schule aufbrechen will, haben alle Omnibusse und Straßenbahnen den Verkehr eingestellt. Sie kann nur eine Pferdedroschke ergattern, deren Kutscher jedoch absolut nicht bereit ist, sie zu ihrem Ziel zu bringen: »Unter den Linden? Da werdense wohl jetzt nich hinkommen. […] Da is alles abgesperrt.« Nein, Näheres wisse er auch nicht.
    Irgendwie gelangt sie trotzdem zum Treffpunkt, wo ihr Freund geduldig auf sie wartet. Und da erfährt sie auch, was geschehen ist: Die Brigade Ehrhardt hatte das Regierungsviertel besetzt, und ihr Kommandeur, der General von Lüttwitz, hatte einen neuen Reichskanzler proklamiert – den 60-jährigen ostpreußischen Nationalisten Wolfgang Kapp. Aber weshalb hatten Ebert und Noske nicht die Polizei und die Garde, die legitimen Streitkräfte, hinauskommandiert?

    Gerüchte gehen um, dass die Regierung aus der Hauptstadt geflohen sei und dass alle Seitenstraßen von Ehrhardts Soldaten mit ihren Hakenkreuzhelmen abgesperrt seien, und jetzt hört auch sie, wie sie singen: Hakenkreuz am Stahlhelm .

    »Als wir am Brandenburger Tor angekommen waren, trauten wir unseren Augen nicht. Zum ersten Mal seit der Revolution [d.h. seit dem Abdanken der kaiserlichen Herrschaft und der Gründung der Republik am 9. November 1918] war die Wache wieder

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