Meine Mutter, die Gräfin
Ausverkauf des Reiches betreibe. Er hatte 1922 in Rapallo (Italien) mit Sowjetrussland einen Vertrag geschlossen, der besagte, dass Deutschland von nun an die Nichtigkeit bzw. Aufkündigung des Vertrages von Brest-Litowsk seitens Russlands respektiere (im Frühjahr 1918 hatte das russische Regime Frieden geschlossen und in besagtem Vertrag seine Ansprüche auf Kurland, Livland, Lettland, Litauen, Ukraine, Polen und Finnland zugunsten Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches abgetreten, ihn aber im November 1918 aufgekündigt), wodurch beide Länder gegenseitig dem Wunsch Ausdruck verliehen, ihre diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen, und sogar versuchen wollten, wieder auf wirtschaftspolitischem Gebiet zusammenzuarbeiten. Der Tag der Ermordung Rathenaus, der 24. Juni 1922, sollte von den Nazis später regelmäßig gefeiert werden.
In diesen frühen Nachkriegsjahren wurden von Freikorpssoldaten eine Reihe brutaler Morde, die sogenannten »Fememorde«, begangen. Die Mörder kamen mit sehr milden Strafen davon – ganz anders wurde mit den Anhängern der Linken verfahren, was folglich auch einer der Hauptgründe für die internen Spannungen in der Weimarer Republik war: dass Beamte und Richter nicht ausgetauscht worden waren (das war einer von Rosa Luxemburgs Vorwürfen gewesen), sondern viele von ihnen im wilhelminischen, kaiserlichen Deutschland ausgebildet worden waren, das sie geformt hatte, sodass sie nun mit Männern wie Ehrhardt sympathisier
ten, die Hakenkreuze auf ihre Helme pinselten und sich in die kaiserlichen Farben rot, schwarz und weiß kleideten.
»Die Folgen«, wie Peter Gay in seinem Buch über die Kultur in der Weimarer Republik schrieb, »sind bekannt, verdienen jedoch hervorgehoben zu werden: In der Zeit von 1918 bis 1922 gab es zweiundzwanzig Morde, die linken Tätern nachgewiesen wurden; siebzehn von ihnen wurden hart bestraft, zehn erhielten die Todesstrafe. Rechtsradikale hingegen stießen vor Gericht auf Mitgefühl: von 354 Morden, die sie begingen, wurde nur einer streng bestraft, und auch der nicht mit der Todesstrafe.«
1923 betrat Adolf Hitler durch einen fast bizarren Putsch am 8./9. November im Münchner Bürgerbräukeller die Bühne der Weltgeschichte. Die Nazis, die ihre Partei NSDAP gegründet hatten, die ca. 50 000 Mitglieder besaß, riefen die »nationale Revolution« aus, woraufhin Hitler am 9. November mit 3000 Gesinnungsgenossen in das Zentrum von München zog. Die Polizei eröffnete das Feuer, ein Mann starb, Göring wurde verletzt und floh nach Österreich, während Hitler ebenfalls flüchtete, jedoch verhaftet wurde und in den neun Monaten, in denen er in Landsberg in Festungshaft saß, in aller Ruhe an seinem Heldenkranz basteln und sein Buch Mein Kampf verfassen konnte.
November 1923: Zu dem Zeitpunkt hatten die Deutschen fast ein Jahr unter der Hyperinflation gelitten, die aber keinesfalls als der Nährboden für eine ganze Reihe von Verzweiflungstaten bezeichnet werden konnte.
Geschehnisse in Hamborn
Die Inflation hatte bereits während des Krieges eingesetzt und war in den ersten Nachkriegsjahren selbstverständlich weiter fortgeschritten. Aber das, was 1923 passierte, kam einer totalen Katastrophe gleich – eine Hyperinflation, die die stabile Welt in eine unendliche Anzahl von Nullen verwan
delte. Vorausgegangen war die Ruhrbesetzung durch Frankreich (und Belgien) – die diese Krise auch auslöste –, um dort so viele ausstehende Reparationszahlungen wie möglich zu sichern und herauszuholen. Das Deutsche Reich antwortete mit passivem Widerstand und stellte infolgedessen alle Zahlungen ein. In der ganzen Region wurde die Arbeit niedergelegt.
Und wieder ist er, der Augenzeuge, Berichterstatter und Abenteurer, vor Ort – der junge Mann, dem es in den Sinn kam, für ein Jahr seinen Lebensunterhalt ausgerechnet als Bergarbeiter im Ruhrgebiet zu bestreiten –, Mamas Alexander, Alexander Stenbock also. Vom 16. November 1922 bis zum 20. Dezember 1923 arbeitete er – weil ihn eine »pekuniäre Not und wohl auch eine gewisse Abenteuerlust« dazu veranlasste – als Schlepper in einer der Gruben des Thyssenkonzerns, im Schacht IV in Hamborn.
Und es macht mich fast traurig, wenn ich bedenke, wie viel ich über Alexander – diesen fremden Mann, mit dem sie ein paar Jahre lang verheiratet gewesen ist – weiß und wie wenig dagegen über meine Mutter aus jener Zeit. Vielleicht verkörperten sie den damaligen Idealtypus von »Mann« und »Frau«: Er hat
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