Meine Mutter, die Gräfin
Mittelpunkt der Aufnahme ausmacht, hineingedrückt. Die eine Hand lässt er schwer auf Lotties rechter Schulter ruhen, eine Geste, die von einem solchen Besitzanspruch zeugt, dass es sich um ihn handeln muss – ihren ersten Verlobten. Seine andere Hand liegt auf Emilies Stuhllehne, und sein
rechtes Bein hat er gebeugt auf dem Querholz des Stuhls abgestellt. Nahezu gebieterisch rahmt er die beiden Frauen ein; die eine wirkt niedergeschmettert, die andere – ja, was macht sie? Warum lehnt sie sich so, fast ein wenig kokett, gegen ihn? Denn das tut sie doch?
1921. Lottie im Alter von 15 Jahren.
Ob das der Professor ist, den wir auf dem Bild sehen? Der Mann, der auch später noch durch die Zeilen geistern wird, Dunogier? Ich glaube, ja. Und ich glaube auch, dass sich Emilie danach aus dem Stuhl erheben und Charlottes erstem Verlobten einen vernichtenden Blick zuwerfen wird, sich zu Fritz umdreht und ihr Mädchen auf ein Pensionat schickt, aus der Reichweite ihres Verlobten und fort von den Versuchungen der »Flegeljahre«. Für ein Jahr nach Weimar.
Und was geschieht in Weimar?
Ich starre zwei weitere Fotos an, die sich in meinem Besitz befinden: Auf dem einen ist sie fünfzehn, August 1921. Sie sitzt in einem Stuhl und hält ein Buch in der Hand. Lächelt. Wie sie es auf den meisten Fotos tut, schon von Kindesbeinen an. Ein sanftes und freundliches Lächeln. Ein Gewinnendes. Reizend. Unverdorben.
Auf dem anderen steht sie, unsere Mutter, Lolotte, Lottie, mit einer Schirmmütze – einer Schülermütze? – auf dem Kopf da – provozierend breitbeinig in bauschigen kurzen Hosen und einer kurzärmeligen Bluse. Ihre Hände sind in die
Seiten gestemmt, und sie hat eine Zigarette zwischen den Lippen. Ihr Kopf ist leicht zur Seite geneigt. Und ihr Blick – ja, der Blick? Dass das meine Mutter ist, daran besteht kein Zweifel. Dieser Blick, die Geste, die Zigarette sind mir nur allzu vertraut.
Auf dem Bild ist sie achtzehn.
Charlotte Schledt mit 18 Jahren.
P . S .
Am 13. März 1922 schreibt Emilie, die während des Krieges dunkle Augenringe bekommen hat, einen in Geheimschrift verfassten Satz in ihr Tagebuch. Die Chiffren sind vermutlich selbstentwickelt; sie sind undeutbar. An diese Stelle schließt sich auf Französisch an: »Wenn man so entsetzlich leidet, dass es einen alle Kraft kostet, wird das Urteilsvermögen getrübt.« Und dann folgt ein Gedicht von Paul Verlaine:
»Schwarz hält mich und schwer
Ein Schlummer umfangen,
Schlaf, Wunsch und Begehr,
Schlaf, Hoffen und Bangen!
Es trübt sich mein Blick,
Mich flieht das Erinnern
An Unglück und Glück,
Und Nacht ist im Innern.
So bewegt auf und ab
Ein dunkler Wille
Eine Wiege am Grab:
Seid stille! Seid stille!«
Lottie mit 16 – die »Flegeljahre«.
Kapitel 3
Deutschland – bleiche Hure
Berlin – Weimar – Jena 1920-1927
Am 13. März 1920 spaziert ein achtzehnjähriger junger Mann durch die Berliner Linden-Passage, die die Ecke Friedrichstraße und Behrenstraße mit der großen Paradestraße Unter den Linden verbindet. Es ist, als ob die Architektur der Passage an sich, geformt wie eine geheime Grotte, eine verbotene, zweifelhafte Anziehungskraft ausübt: Mit steigender Faszination betrachtet er die Ausstellung in Castan's Panopticum, einem beliebten Wachsfigurenkabinett, wo es die Berühmtheiten, Kriegshelden, Missgeburten, eine Schreckenskammer mit bekannten Mördern, Heiratsschwindlern und Dieben jener Tage zu bestaunen gibt, man sich aber auch lüstern an einer Haremsdarstellung und an Mythenszenerien ergötzen kann: Da die liebliche Jungfrau, die von einem schroffen Felsen abgestürzt ist. Das Blut färbt ihre weiße Brust, ihre Augen sind gebrochen, ein treuer Jäger kniet an ihrer Seite.
Die Schaufenster in der Passage erstrahlen in giftig-bunten Farben und präsentieren eigentümliche Auslagen. Diese Mischung aus grellen Blumenbildern, Nixen, Jägern, trinkenden Mönchen und Mondscheinlandschaften mit tanzenden Elfen muten, wie er findet, wie eine Orgie an.
Dazu die auffallend vielen, ja aufsehenerregenden Kaiserbilder von Wilhelm II .: Der Kaiser mit und ohne Pferd, medaillendekoriert, stehend, sitzend, kniend … Dabei gibt es doch gar keinen Kaiser mehr; er hatte in Zusammenhang mit der Kapitulation im November 1918 abdanken müssen, als
der Krieg endlich vorbei war, dieser ehrenvolle Krieg, der Europa nach vier Jahren Dauer in Hunger und Elend gestürzt und ihm neue Grenzen, neue Länder, neue politische Konstellationen,
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