Meine Mutter, die Gräfin
über die Unterzeichnung des Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 ausdrückte.
Wahrhaftig – die von Deutschland zu begleichende Summe belief sich auf nicht weniger als 138 Millionen Goldmark. Das war für das Deutschland der Quäkerspeisungen und der allseits herrschenden Not eine entsetzliche Summe. Die geplante wirtschaftliche Verwüstung Deutschlands nannte John Maynard Keynes, Vertreter des englischen Schatzkanzlers, »abscheulich und verachtenswert«. Er prophezeite, so Gerhard Wilke, »dass Europa nicht prosperieren könne, wenn Deutschland wirtschaftlich zerrüttet würde«.
Aber was hatten sie schon für eine Wahl? Und so wurde jener Mythos geboren, den der junge Alexander in der Linden-Passage dargestellt sah: von der abgestürzten, ja gar heruntergestoßenen Germania, die zu Füßen des Jägers verblutet, der zwar gesund und flink ist, aber keine Chance hat, sie zu verteidigen. Und so kam es zur Dolchstoßlegende.
Noch mehr Geschichte
Auch ein starker Linksmythos bildete sich heraus. Die Sozialdemokraten Scheidemann, Ebert und Noske wurden zur Troika der Klassenfeinde, die die revolutionäre Arbeiterklasse verriet, die die große deutsche KPD aufgebaut hatte – jene KPD , die im Dezember 1918 gegründet worden war und der meine Mutter 1932 beitrat. Und so klang die »Legende« dieser Troika, wie sie Alexander Stenbock in seinem ersten Buch über die Bergarbeiter im Ruhrgebiet aufschrieb:
»Von allen falschen Hunden sind die Sozialdemokraten die falschesten! Während des Krieges haben die elenden Brüder die Kriegskredite bewilligt, damit die Kapitalisten Geld genug hatten, die Proleten auf die Schlachtbank zu schicken. Als die Arbeiter diesem Verbrechen ein Ende machen wollten und den Munitionsstreik ausriefen, waren es die Sozialdemokraten, die Eberte und Scheidemänner, die den Streik abwürgten und den Kapitalisten die Möglichkeit gaben, weiter die Kumpels in den Tod zu hetzen. Und als dann schließlich das Volk die Geduld verlor und die Revolution machte, damit endlich das Massenmorden aufhören sollte, und die Zeit gekommen war für die Herrschaft des Proletariats, da waren es wieder die verdammten Sozialdemokraten, der Bluthund Noske und Konsorten, die aufs Volk schießen ließen und die Revolution niederknüppelten.«
Da steht das deutsche Volk nun also mit der Weimarer Republik, dieser wackeligen und verletzbaren Demokratie, da – deren Verfassung beispielsweise so konstruiert war, dass selbst kleinste Parteigruppierungen in den Reichstag einziehen konnten; ein eingebauter Systemfehler sozusagen, der jedenfalls nicht dazu beitrug, im Inneren Einigkeit zu schaffen, die ja zweifelsfrei vonnöten gewesen wäre. Darüber hinaus, so Peter Gay in seinem Essay über die Weimarer Republik, sei Politik allgemein als etwas Undeutsches angesehen worden, die Demokratie als eine englische Erfindung und die praktische Vernunft als ein Widerspruch zu deutscher Bildung und Kultur. Nicht viele hätten die Republik geliebt, und die, die sie gestützt hatten, hätten dies eher aus einer verstandesmäßigen Entscheidung denn aus leidenschaftlicher Überzeugung heraus getan.
Stattdessen sehen wir also, wie sich die beiden großen, düsteren Mythen herausbilden und um die Seelen der Menschen konkurrieren und die Grundlage für die erbitterten Fehden im Inneren schaffen, die mit dem Kapp-Putsch bei weitem nicht beendet waren: die Dolchstoßlegende für die herandämmernde Nazipartei und der Mythos vom Klassenverrat für die Kommunisten.
Die Jahre bis 1926 – die im Vergleich zu den Jahren, die folgen sollten, noch als relativ ruhig angesehen werden können – sind vollgestopft mit Geschichte – viel zu viel Geschichte.
So viel in Kürze:
1921 fand in Oberschlesien eine Volksabstimmung statt – ein Gebiet, das reich an Steinkohle und Industrie war –, bei der die Bevölkerung befragt wurde, ob sie zu Deutschland oder Polen gehören wollte. Trotz einer 98-prozentigen Wahlbeteiligung, bei der 61 Prozent für Deutschland stimmten, wurde der östliche Teil um Kattowitz (heute Katowice) an
Polen abgetreten – was Anlass zu neuer nationaler Verbitterung gab.
1922 wurde der Reichsaußenminister Walther Rathenau, ein jüdischer Großindustrieller, Rationalist und Philosoph, ermordet. Auslöser des Mordes waren exakt jene nationalistischen, extremistischen Freikorpsmythen, die über eine angebliche jüdisch-kommunistische Verschwörung in Umlauf gebracht wurden, die meinte, dass Walther Rathenau einen
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