Meine Mutter, die Gräfin
neue Gepflogenheiten beschert hat. Hier aber, in dieser Grotte, geht der Kaiser eine Symbiose mit pornografischen Darstellungen, Schreckenskammern, mittelalterlichen Mythen und allegorischen Wunschträumen ein: dem Traum, dass es einem Jäger – einem richtigen Mann also – beim nächsten Mal gelänge, die blutende Jungfrau Germania zu retten.
Der junge Mann schüttelt die schwüle Stimmung, die über der Passage hängt, ab. Genug davon, nur raus an die frische Luft!
Er ist unterwegs zu seinen Eltern, seinen Geschwistern, Onkeln und Tanten – Angehörigen eines lettischen Adelsgeschlechts, das mit heiler Haut dem zwei Jahre währenden Krieg in Riga entronnen ist und samt Möbeln, Schmuckstücken, Porzellanservicen, Stoffen und Gemälden – was weiß ich –, die ihnen ein Auskommen sicherten, nach Neustrelitz in Mecklenburg geflüchtet sind. Der junge Mann heißt Alexander Stenbock-Fermor. Es ist der Mann, den meine Mutter neun Jahre später heiraten wird.
Ich stelle mir vor, dass das Berlin, dem er sich im März 1920 gegenübersieht, ein deprimierendes und abgekämpftes, mit deprimierten und abgekämpften Menschen – mageren Frauen in Röcken, die an den Fesseln enden, mit unförmigen Jacken und großen runden Hüten auf dem Kopf, wie sie vor dem Krieg in Mode waren – gewesen sein muss. Ja, bis auf die Kinder tragen alle irgendeinen Kopfputz; die Männer Hüte – runde oder modernere oder Kappen, wenn sie nicht gar Helme tragen. Sie eilen über die Straßen, deren Beläge noch immer aus Pflastersteinen sind und auf denen der Verkehr eine dünn gesäte Mischung aus gelben Straßenbahnen,
einer Handvoll Autos und Pferdedroschken ist. Und was ist mit Fahrrädern? Nun, wer kann sich schon ein Fahrrad leisten? Obwohl – ein paar haben natürlich welche. Noch prägen die schönen Jugendstilcafés und Restaurants das Straßenbild, noch kann man sehen, wie die feine Gesellschaft über die Prachtstraße Unter den Linden flaniert. Und eines sticht einem kristallklar ins Auge, denke ich – der Unterschied zwischen diesen und jenen. Die Häuserfassaden sind noch nicht völlig zerbombt wie nach dem nächsten Weltkrieg, als die Stadt in Schutt und Asche gelegt wurde. Aber vereinzelte Gebäude mit Symbolcharakter in der Innenstadt weisen doch Einschusslöcher auf, das Schloss ist verwüstet, Bäume hängen – von Geschützfeuer getroffen – über die Straßen, von denen einige von Pflastersteinen, Ästen und allerlei Gerümpel blockiert sind – hier haben bürgerkriegsähnliche Straßenkämpfe gewütet. Und hier ist, als Stenbock sich in das Straßengewimmel begibt, ein gewaltiger Putsch im Gange – und nicht der erste.
Die »sogenannte Revolution« in Deutschland
Schon Tage vor dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 brachen in großen Schüben soziale Unruhen über Deutschland herein. Am 3. November meuterten die Matrosen in Kiel – wie schon zuvor ihre russischen Brüder –, und schon bald weiteten sich Aufstände und Streiks flächenbrandartig auf Hamburg, Lübeck und Berlin aus. In Berlin versammelte sich die Linke – der Teil, der sich bereits bei Kriegsausbruch abgespalten hatte, weil man nicht für Kriegskredite – Geld für die Kriegsführung also – stimmen wollte. Im Reichstag hatte Karl Liebknecht sich verweigert, außerhalb des Reichstages Rosa Luxemburg. 1917 wurden diese linken Gruppierungen aus der SPD ausgeschlossen, und 1917 bildete sich die USPD , die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Luxemburg und Liebknecht, die
Ideologen des stärker werdenden revolutionären Spartakusbundes, schlossen sich ihnen an. Und zum Jahreswechsel 1918-1919 gründeten diese linkssozialistischen Gruppen die KPD , die Kommunistische Partei Deutschlands.
Rosa Luxemburg hatte fast den ganzen Ersten Weltkrieg im Gefängnis verbracht, aber in diesem heißen Herbst 1918, als sich die politischen Konflikte zuspitzten, war sie bereits aus der Haft entlassen worden und ging hinaus auf die Straße und propagierte – erneut – gewaltsam, dass es an der Zeit sei, sich vom Sturm der Geschichte mitreißen zu lassen. Und jetzt schlug die Revolution ernsthaft zu, nun gründeten sich wie in Russland Arbeiter- und Soldatenräte, und Liebknecht will gerade die Freie Sozialistische Republik Deutschland proklamieren, als der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann ihm zuvorkommt und am 9. November 1918 in Berlin die Deutsche Republik ausruft.
So fiel die Kaiserherrschaft, um einen stärkeren revolutionären
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