Meine Mutter, die Gräfin
Frau zu sein: eine »neue Frau«, die Körper und Liebe nüchtern betrachtet, die nach außen hin die Selbstständige, die Gleichwertige ist. Die Moderne. Auch wenn sie ihre Haare nach wie vor lang trägt.
Die »neue Frau«
Denkt man an die Weimarer Republik, so fällt einem spontan die »neue Frau« ein, Bilder von wollüstigen, jungen, schlanken, »spöttischen«, rauchenden jungen Frauen mit Bubikopffrisur, dunkelroten Schmollmündern und Seidenstrümpfen – junge Frauen, die sich über fette Geldsäcke beugen, Marlene Dietrichs schöne Beine und ihr Zylinder … Ja, juchei, wir leben, wir rauchen, wir feiern und tanzen am Rande des Vulkans!
Und dennoch steckt in diesen stereotypen, frauenfeindlichen Bildern etwas von dem, was passiert war: Das wirklich Neue – wenn man zerschossene Wälder und stinkende, aufgeweichte Felder, auf denen nach zehn Jahren trotz allem neue Wälder standen, wo trotz allem neues Gras und neue Ähren auf den Feldern wogten, außer Acht lässt. Das wirklich Neue, das zweifellos mit diesem »Grund«, der Beziehung zwischen Mann und Frau, zu tun hatte: Ganz ungeachtet davon, wo sie sich in diesem sozialen Mischmasch befanden. Alles fließt – wie Theweleit festhält, alles fließt. Jetzt darf ein junger Aristokrat, auch wenn er seiner Güter und seiner grünen Wälder beraubt ist, die Tochter eines Buchhändlers heiraten. Jetzt darf die Tochter eines Buchhändlers in der Öffentlichkeit lange Hosen tragen und rauchen, mit ihren seidenbestrumpften Beinen baumeln und die Nächte in viel zu engen Schuhen und ohne Schürze durchtanzen.
Der Wandel lässt sich konkret beschreiben und in Ziffern fassen. Nehmen wir nur die Politik – diese früher so vollkommen eingeschlechtliche männliche Domäne. Als die neu propagierte demokratische Weimarer Republik im Januar 1919 Wahlen ansetzte, ging ein unerwartet großer Anteil der neuen Staatsbürgerinnen, ja, gingen die Frauen zum ersten Mal zur Wahl. Fast 30 Prozent von ihnen stimmten für das konservativ-katholische Lager, vermutlich hatte man den
Frauen überhaupt deshalb zum ersten Mal das Wahlrecht erteilt: Sie sollten mit ihrer konservativeren Neigung eine Revolution unterbinden. Doch, huch!, wie man sich täuschen konnte, wählten doch damals schon gut 20 Prozent Parteien aus dem linken Spektrum – ein Trend, der sich in den kommenden Jahren, den 1920ern, noch fortsetzte.
1920 bereits zogen die ersten Frauen in den deutschen Reichstag ein; 10 Prozent der Abgeordneten stellten sie – eine sagenhafte Zahl für die damalige Zeit, wenn man das mit Schweden vergleicht, wo Frauen 1921 zum ersten Mal zur Wahl zugelassen wurden und fünf Frauen – waren das überhaupt zwei Prozent? – ins Parlament gewählt wurden. Zwischenzeitlich sanken die 10 Prozent in Deutschland aber wieder, und als die Hitlerzeit vor der Tür stand, war die weibliche Quote schon fast um die Hälfte gesunken.
Der Wandel war mit Sicherheit in den Städten, in den Büros, in den Geschäften zu spüren, wo Frauen jetzt in Berufen arbeiteten, die zuvor rein männliche Domänen gewesen waren, wie schon die Bezeichnung »Manschettenarbeiter« für Büroangestellte, Stenografen und Kaufmannsgehilfen usw. sagt.
Der Wandel war nicht zuletzt auch daheim zu spüren. Der männliche Versorger war schließlich fort und im Krieg gewesen, und nach seiner Heimkehr war nichts mehr so, wie es einmal war. Wenn er denn überhaupt wieder nach Hause gekommen war.
Er sorgt nicht mehr für sie . Die Legitimation der weiblichen Unterordnung war schon seit einigen Jahren nicht mehr gegeben. Er sorgt nicht für sie. Wenn sie sich nicht selbst versorgen kann, muss sie hungern, müssen ihre Kinder hungern. Er hat seine Potenz – manchmal den ganzen Apparat – eingebüßt. Ernst Toller fängt das – oh, so deutsch, so grotesk! – in seinem Theaterstück Der deutsche Hinkemann ein: Der Mann, der Romantiker, der im Krieg seinen Penis ein
büßt und versucht, die Frau, die er liebt (die ihn zum Dank betrügt) zu versorgen, indem er, mit dem Hochzeitsmarsch aus Wagners Lohengrin als Begleitmusik, als »stärkster Mann der Welt« in jeder Vorstellung einer Ratte und einer Maus die Kehle durchbeißt …
Ja, was für ein Wirrwarr das doch ist: Familien zerfallen, Geld zerfällt, Männer zerfallen, Frauen – körperlich wie geistig von den geschnürten Korsetts befreit, verhasst, sichtbar, siegreich, besiegt – versuchen sich selbst zu versorgen. All das spielt sich ab, während es gleichzeitig
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