Meine Mutter, die Gräfin
zu ihrem markanten Profil darstellt. Auf dem Foto en face – von vorne aufgenommen – blickt sie seelenvoll in den Himmel. Ihr Muttermal ist weg. Und dann existiert da noch ein Foto, das ein Jahr später aufgenommen wurde – ein Foto, auf dem Lottie und Leni in weißen Hüten mit breiter Krempe und weißen Kleidern, jeglicher Individualität beraubt, süßlich-schön posieren.
Emilies Traummädchen, August 1923.
So also möchte Emilie sie haben? Liebliche junge Mädchen, rein und unschuldsvoll, im Kontrast zu jener Figur, die sich in Deutschland entwickelt – die der vampartigen, verführerischen und selbstständigen »neuen Frau«. Diese Aufnahmen, die wie Porträts, mit denen man sich bei seriösen Freiern bewerben könnte, anmuten, erinnern sie an sich selbst als junge Frau um die Jahrhundertwende.
Rein. Unbesudelt. Ist Emilie eines Abends vielleicht in das Zimmer gekommen, in dem Lottie und Leni sich gerade für die Nacht zurechtmachen – ihre langen, dunklen Haarmähnen bürsten, sich über Mitesser und den einen oder an
deren Pickel ärgern, in ihre langen weißen Nachthemden schlüpfen – ist Emilie hereingekommen, hat einen Blick auf ihre hübschen Mädel geworfen und dabei leicht (und unmerklich) geseufzt, als ihr Blick auf Lenis rechten, leicht verkrüppelten Arm fiel? Hat sie im Stillen gedacht, dass es bei Leni ja keine große Rolle spielte – aber bei Lottie! Hat sie daraufhin tief Luft geholt und ihre Mädchen gebeten, die Haarbürsten zur Seite zu legen, weil sie etwas mit ihnen besprechen will?
Und sie wenden sich ihrer Mutter zu, die mit dem Krieg immer müder und älter geworden ist und dunkle Augenringe bekommen hat – sie lieben ihre Mama, ihre wundervolle Mama, die so lecker kochen kann, bei der Lachen und Weinen so nah beieinanderliegen und die bei allem, was sie anpackt, so geschwind ist wie der Wind. Und Emilie, ja Emilie holt tief Luft, hält den Blick ihrer älteren, fünfzehnjährigen Tochter fest und erzählt eine Geschichte, anhand derer sie die Gefahren und die Verlockungen der Sexualität andeutet. Wenn man sich ganz verschenkt, sagt sie befangen, gibt es später, wenn die große Liebe kommt, nichts mehr, was man verschenken kann. Leni, die erst dreizehn ist, wird starr vor Scham und Ekel und versteckt ihren Kopf im Kissen, während Lottie ihre Mutter mit ihren schönen, dunklen graublauen Augen ansieht und wissend nickt – erwachsen und leicht erheitert: Mais vraiment maman, was stellst du dir vor?!
Diese Szene habe ich mir ausgedacht. Ich stell' mir vor, dass es so gewesen sein könnte, sofern »diese Sache« nicht passiert ist, »diese Sache«, die – wenn es nach mir geht – überhaupt nicht passiert ist. Oder? Emilie weiß von nichts, will von nichts wissen, und Lottie trägt »diese Sache« wie ein düsteres Geheimnis auf dem Grund ihres Inneren, von wo es niemals an die Oberfläche dringen kann – wie ein unentwegt verdrängter Albtraum. Verflixte Leni, muss ich plötzlich den
ken, sehe ihre düstere Erscheinung vor mir: Das hässliche Entlein, aus dem niemals ein Schwan werden wird, die Missgebildete, die Haustochter, die Überlebende. Die Leni, die so gerne Kindertheater spielte, die so gerne die Rolle der bösen Königin, der Hexe in Schneewittchen spielte …
Genug, genug! Vom 16. September 1922 an verbringt Lottie, während der Hyperinflation, jedenfalls ein Jahr in Weimar. Mit rumänischen Lei, die ihr wahrscheinlich zugeschickt werden; Geld, von dem sie gut leben kann. »Tanz«, hält sie fest. Wie alle anderen tanzte auch sie im Deutschland der Inflation. Auch wenn es offenbar Grenzen gab: Kleinstadtgefühl, Mädchenpensionat.
Grenzen, die sie aber dennoch nicht daran hindern, mit ihren graublauen Augen in die große kleine Welt zu sehen: Und Fotos, Filme, Werbung, Bücher, Menschen, Gesten, Wörter und Witze zu registrieren. Das Deutsche, das sie als kleines Mädchen zu etwas Göttlichem erhoben hatte, dürfte jetzt, anhand dieser unschönen Realität im Land der Verlorenen, ziemlich ernüchternd von seinem Olymp gepurzelt sein. Aber trotzdem: Sie befindet sich dort, wo die Wiege der deutschen Kultur liegt, in der Stadt Goethes, sie schwingt das Tanzbein und muss in ihren Lackschuhen ganz reizend ausgesehen haben. Und trotz der vorkriegsartigen Erziehungsmethoden, die im Pensionat zu herrschen scheinen, saugt sie die sichtbaren und unsichtbaren sozialen Codes der neuen Zeit in sich auf. Hier bekommt sie eine erste Ahnung davon, was es heißt, eine
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