Meine Mutter, die Gräfin
und in den meisten Fällen und oberflächlich gesehen natürlich »wie immer« ist: Mädchen im Pensionat, Gekicher und Ermahnungen, altmodische Pensionatsdamen, alte, bürgerliche Jungfern mit zerschlissenen schwarzen Kleidern und munteren moralisierenden Redewendungen – und Männer mit ihrem »selbstverständlichen« Anspruch auf Macht und Autorität. Hinter und zugleich neben dieser »neuen Frau« lebt sie, die »alte Frau«, in deren Körpern die Erinnerungen an den Krieg noch frisch eingebrannt sind, porträtiert von Käthe Kollwitz: die leidende, notleidende, verzweifelte Proletarierfrau. Allerdings nicht im Singular, denn sie gibt es zu Hauf – alle jene Witwen und all jene blutjungen Frauen, deren gefallene Verlobte nur noch auf abgegriffenen Fotografien existieren.
Ein Wirrwarr, durch den sich jedoch dieser neue rote Faden zieht, der von nichts anderem als Sex, Sex und nochmals Sex handelt. Alle reden davon, Alexander ist da keine Ausnahme, als er beschreibt, was ihm in der Linden-Passage entgegenschlägt oder was er in Hamborn sieht, wo sich die Proletarier ihre Frauen teilen, als handle es sich um Brotlaibe. Deutschland, bleiche Hure/Mutter.
»Ein erotischer Taumel wirbelte die Welt durcheinander«, wie Hans Ostwald bezeugte:
»Viele Dinge, die sonst im Stillen sich abgespielt hatten, traten in die grelle Öffentlichkeit. Vor allem stellten sich die Frauen auf vielen Gebieten gänzlich um. Sie traten mit ihren Forderungen, besonders auch mit ihren sexuellen Forderungen, viel deutlicher hervor. Sie betonten auf jede Art und Weise ihr Recht auf Leben und Ausleben viel stärker.«
Grete in Heidelberg
Ungefähr zur selben Zeit entwickelt sich die junge Margarete Thüring in Heidelberg zur Kommunistin. Sie hat Berlin, Potsdam und ihrem preußischen, strengen, prügelnden Vater den Rücken gekehrt und vollzieht damit, gemeinsam mit ihrer schönen Schwester Babette (»Was, du bist die Schwester von Babette?«, wird Arthur Koestler zehn Jahre später erstaunt fragen), den endgültigen Schritt, dem eine langjährige Entfremdung in ihrem thüringischen Elternhaus vorausgegangen ist. Weg, bloß weg, koste es, was es wolle!
Für Grete ist es eine Selbstverständlichkeit, sich durch Arbeit und politisches Engagement ein eigenes Leben aufzubauen. Am zweiten Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1921 nimmt sie an ihrer allerersten kommunistischen Demonstration teil. Sie hat Rafael Buber kennengelernt, der sich auch nach links orientiert, und gemeinsam gehen sie nach Heidelberg, weil Rafael dort studieren will. Und Grete begleitet ihn. Natürlich. In der kleinen Universitätsstadt leben sie das Leben der Boheme und treffen auf Gleichgesinnte: junge Menschen, deren Gesichter den Ernst der Zeit und ihren eigenen widerspiegeln. Was Liebe – oder Sexualität – betrifft, würden sie Ostwalds Einschätzung, dass es sich um einen »Taumel« gehandelt habe, von der Hand weisen. Sie befinden sich in keinem Taumel – sie sind nüchtern. Frei. Sie gehen einfach nur
ehrlicher und wahrhaftiger als das Bürgertum in dieser verlogenen bürgerlichen Gesellschaft damit um.
Was die »freie« Sexualität anbelangt, so entwickelte sie sich – und das ist Gretes Interpretation – gewissermaßen aus der Jugendbewegung der Vorkriegszeit, den »Wandervögeln«, die für die Aufbruchstimmung der deutschen Jugendlichen stand: sich von der in erstarrten Formen verharrenden Masse abzuheben, sich hinaus in das richtige, wahre Leben zu begeben, den Menschen tief in die Augen zu sehen und ihnen einen festen, energischen Händedruck zu geben, sich »natürlich« zu kleiden – in Sandalen und kurzen Hosen –, Gemüse zu essen, nackt zu schwimmen, sich in eisiges Wasser zu stürzen – singend durch die Straßen zu ziehen, (als Auserwählte) zu einem »Nest«, dem Heim einer Ortsgruppe, zu gehören, sich zu »Nestabenden« zu treffen.
Wie aus Gretes Schilderung hervorgeht, waren die Wandervögel ursprünglich ein Männerbund. Seine Wurzeln hatte er in einem durch und durch männlichen, halb homoerotischen Bund, erst später durften auch junge Mädchen »mitspielen«, die sich natürlich auch zurück zur Natur wenden sollten – und was das bedeutete, wissen wir ja nun. Auch hier hieß es, einfach und natürlich zu sein, Schluss zu machen mit den bürgerlichen Manieren des Flirtens und der Koketterie und den unnatürlichen, erotischen Spielen. Nein, jetzt ging es um die »neuen Wege der Liebe«:
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