Meine Mutter, die Gräfin
versuche, ihm eine unbekümmerte Miene zu zeigen, dabei fühle ich mich so elend.«
Otto, ihr Otto, ihr ein und alles – ihr Trost. Seine arme kleine Hand mit den abgeschnittenen Fingern, die sie an jenem schrecklichen Osterfest 1916 hochhielt, seine kleine Hand, die in ihrer ruhte, als sie von dem Gefängnisbesuch bei Vati, der wegen Landesverrats angeklagt worden war, aufbrachen. Der kleine Knabe mit dem verkniffenen Mund. Der kleine Knabe, der seine Mama über alles in der Welt liebte. Der Junge, der Amateurtheater spielte – » Dilettantenschauspieler im Rahmen der Theatergruppe des Radautzer Deutschen Kulturvereins « –, und sonst? Hat er das Abitur gemacht? Sollte er auch Buchhändler wie sein Vater werden?
Und Leni, was machte Leni? In jenem Sommer wird über Leni kein Wort verloren. Erst im September 1930 überlegt ihre große Schwester laut, ob Leni nicht nach Jena gehen könne – sie, Lottie, sei wieder da gewesen und hätte Bekannten einen Besuch abgestattet, und sie kenne da ein paar Leute, die eine Haustochter gebrauchen könnten – aber du kannst bestimmt auch nicht auf sie verzichten …
Hemmadöttrar nannte man diese Mädchen damals in Schweden, dort hielt man es zu jener Zeit für ganz »normal«, dass eine der Töchter – meistens eine kleine Schwester – als unbezahlte Arbeitskraft in der Landwirtschaft oder für die Küche im Elternhaus blieb – so eine Art »Mädchenopfer«. Warum ihnen also erst eine Ausbildung finanzieren? Offenbar ist es so auch mit Leni gewesen. Emilie brauchte sie daheim, also blieb Leni daheim. Und teilte ihr Haar zum Mittelscheitel und verfasste mit dicker Tinte und in altdeutscher Schrift – diesen heute fast unlesbaren Chiffren – ihre Grüße.
Otto litt also an Tbc und wurde nach Solka, einem Kurort in der Bukowina, und danach nach Bad Lippspringe in Westdeutschland – weit entfernt von der Heimat, in Nordrhein-Westfalen – geschickt. Und er verzehrt sich vor Heimweh und schlägt sich wegen seiner Krankheit mit Ängsten her
um – er ist doch erst zweiundzwanzig! Sein Leben hat doch noch nicht mal richtig angefangen.
»Ach, Mama«, schreibt er im September 1930 an Emilie, »manchmal möchte man einfach nur ausreißen von hier. Ich muss meine ganze Kraft darauf verwenden, mein inneres Gleichgewicht zu halten. Das Leben ist so eintönig, alles richtet sich nach der Uhr; sonntags und mittwochs darf man bis zehn Uhr aufbleiben, da werden im Speisesaal Gesellschaftsspiele gespielt. Es hat nicht lange gedauert, dass sie mich hier zum Maître de Plaisir , zum Witzbold ernannt haben. Alle lachen – ich werde jetzt sehr ehrfurchtsvoll behandelt; die Menschen hier sind schließlich einfache Leute. Aber das Theaterspielen tut mir gut …
Weißt Du, maman , wenn mich nur nicht so die Nervosität plagen würde; dann würde ich über diese Fülle an menschlichen Schicksalen, die mir hier begegnen, Berge von Büchern schreiben können. Nur wenige Menschen sind so offen wie Kranke. Und so erzählen sie mir von ihren innersten Gedanken, von ihrem ganzen Leben und erzählen mir intime Details aus ihren Ehen und über ihre Frauen. Mir haben sie alle möglichen lustigen Namen verpasst: Der Naturforscher, Christus, Gustaf Nagel [ein sonderbarer Wanderprediger, der später gegen den Hitlerkult und die Judenverfolgung predigt und der halb nackt mit langem Christushaar auftrat], der Fakir – alles in allem errege ich hier großes Aufsehen, und die Leute hier machen viel zu viel Aufhebens um meine unscheinbare Person.
Aber, sag, was ist mit Niny? Sie hat schon ewig nicht mehr geschrieben – habt Ihr Niny womöglich etwas von meiner kleinen Liebschaft hier erzählt? Und weshalb schreibt Ihr nie? Keiner lässt von sich hören, weder Lottie noch Onkel Otto oder Ihr – wie geht es Euch? Schreibt doch, schreibt!«
»Mein geliebter Junge«, antwortet Emilie, die ihm einmal pro Woche schreibt, »ich muss fast immerzu an Dich den
ken – mein erster und letzter Gedanke an jedem Tag gilt Dir – Du darfst nicht glauben, dass Du allein auf der Welt bist …«
Aber er durfte über Weihnachten und zu den besonderen Schledt'schen Festtagen – zu Emilies Geburtstag und ihrem Hochzeitstag, jetzt sogar zur Silberhochzeit – nicht nach Hause fahren – »und ich fühle ein bisschen Heimweh, Mama, daheim ist Weihnachten einfach etwas ganz anderes als hier. Aber schick mir doch etwas für meine Bekannte hier, vielleicht die Sonette von Shakespeare, sie ist recht belesen. Oder diesen
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