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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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sein Sohn erst seit wenigen Wochen tot … Danach geht er – erleichtert? – dazu über, von Alltäglichem zu schreiben: Es sei gut, dass Alexander Engelhorn die Treue halte und nicht den Verlag wechsele, denn wenn es etwas gebe, vor dem er, Fritz, wirklich keinen Respekt habe, so seien das Autoren, die wahllos von einem Verlag zum anderen wechseln würden, das würde stets einen schlechten Eindruck machen …

    Ach Emilie, Emilie. Ich spüre ihre Einsamkeit, spüre sie noch heute, Jahrzehnte später – wer kann sie trösten? Fritz? Tröstet sie Leni? Tröstet sie Lottie? Gibt es überhaupt so etwas wie Trost?
    War die Beerdigung in Berlin ein Trost? Als »alle« kamen – nur Fritz und Leni nicht, weil kein Geld dafür da war – und der Sarg von Blumen und unvergleichlich schönen Kränzen bedeckt war und der Pfarrer predigte: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen.«
    Schenkt Gott Trost? Wohl kaum. Emilie glaubte sicherlich mehr an Horoskope und Lebenslinien als an Gott. Schenkte die Flut von Kondolenzbriefen Trost? Die Anzeige im Siebenbürgischen Deutschen Tageblatt – »sein sympathisches Wesen, sein fröhliches Gemüt, seine Hilfsbereitschaft, sein Talent als Schauspieler«?

    Und Charlotte? Was war mit Charlotte? Der großen Schwester, die Tag und Nacht im Berliner Hospiz an der Seite ihres kleinen Bruders gesessen hatte, während in den Straßen der Frühling erwachte und unablässig demonstriert wurde? Hat sie seine schmale, weiße Hand gehalten und ist, vor Kummer und heimlichem Ekel beim Anblick seines ausgemergelten Gesichtes, in dem sich die Haut wie bei ihr über den hohen Wangenknochen spannte, erschauert? Das deut
sche Erbe. Hat sie ihm das Blaue vom Himmel erzählt, ihm von all dem Spaß erzählt, der auf ihn warten würde, sobald er wieder gesund wäre? Geschichten von Berlin zum Besten gegeben? Hat sie ihm versprochen, ihn all ihren Freunden und Bekannten aus der radikalen Künstlerszene vorzustellen? Ja, wer oder was kann Lottie trösten, als er stirbt und Emilie vor Kummer über seinem Sterbebett zusammenbricht? Alexander? Der von seiner abenteuerlichen politischen Arbeit mit dem Scheringer-Komitee und dem Buch, das ihn weltberühmt machen soll, zunehmend in Anspruch genommen wird? Schwerlich. Thiess? Florence? Gisela? Freunde? Tanz? Vergnügungen? Sex? Arbeit? Politik?

    Ich bin an eine Familie aus Fremden gefesselt – was wäre, wenn sie noch da gewesen wären, gelebt hätten, Großeltern ohne blinde Flecken gewesen wären; Leni die, die Puppenkleider strickte, Otto ein Lieblingsonkel, der Weihnachten immer zu etwas ganz Besonderem machte, Otto mit seinen Späßen, seinen Spielen, seinen Geschenken. Ein eigener Onkel Schledt.
    Die letzten Tage der Weimarer Republik
    Der »unruhige Sommer«, in dem die zum Flirten aufgelegte Erna ihre knochigen Hüften schwenkt und ihr schrilles Lachen lacht, ist ein Porträt, das ein paar Monate nach Ottos Tod entstand, ja, in einem Deutschland entstand, in dem die Lage immer angespannter wurde. Diese Geschichte über jenen unruhigen Sommer, die so leicht und luftig wie ein Soufflé ist, ist zugleich auch ein Zeitdokument, denk' ich mir. Denn wie sah es damals in Deutschland aus?
    »Die guten Jahre« – so nannte man den Zeitraum von 1925 bis einschließlich 1928. Danach war es damit wieder vorbei. Die Führungsfigur jener Zeit war Gustav Stresemann von der Deutschen Volkspartei ( DVP ), dem es gelang, Deutsch
lands Beziehungen zu Frankreich und der Sowjetunion wieder zu normalisieren und das Land in den Völkerbund zu integrieren. Die Wahl im Jahr 1928 wurde von der SPD gewonnen, die nahezu 30 Prozent der Stimmen erhielt, gefolgt von den Konservativen – der Deutschnationalen Volkspartei DNVP – mit 14 Prozent, der Zentrumspartei mit 12 Prozent und schließlich der KPD mit etwas über 10 Prozent.
    Daraufhin wurde eine Große Koalition gebildet, eine stabile Mehrheitsregierung mit dem Sozialdemokraten Hermann Müller als Reichskanzler und Stresemann als Außenminister. Es herrschte eitel Sonnenschein, und Berlin vergnügte sich beim Tanz. Doch dann kam die Krise. Die Weltwirtschaftskrise, die an jenem Donnerstag, dem 1. Oktober 1929, ihren dramatischen Anfang an der Wall Street nahm. Und sie traf Deutschland hart, ja erbarmungslos – dieses Land, das enorme Reparationszahlungen zu leisten hatte, in hohem Maße von ausländischen Krediten abhängig war und noch dazu im Jahr zuvor eine schwere Landwirtschaftskrise hatte durchmachen müssen.

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