Meine Mutter, die Gräfin
Auf der ganzen Welt herrschte plötzlich Panik: Großbritannien gab die Goldwährung auf, alles floss, alle gaben auf ihre Häuser Acht – die Exporte sanken, die Arbeitslosigkeit stieg sprunghaft an. Auf dem Höhepunkt der Beschäftigungskrise gab es in Deutschland sechs Millionen Arbeitslose. Die Arbeitslosenpolitik war es auch, die Hermann Müller das Genick brach. Die Deutsche Volkspartei DVP lehnte eine Erhöhung der Beitragssätze der Arbeitslosenversicherung ab und erteilte allen politischen Versuchen, die die Kaufkraft hätten steigern können, eine Absage. Müller gab auf und trat im März 1930 zurück.
Und dann? Soweit es mir gelungen ist, mir einen Überblick über die letzten Jahre der Weimarer Republik zu verschaffen, ging es schlimmer zu als bei einer griechischen Tragödie – die Lage war verzweifelt. Mir geht es dabei wie einem Kind, das im Kino
sitzt und immerzu aufspringt und ruft: Pass auf! Da steht er, ja da, hinter dir! Merkst du's denn nicht? Nein, nein, nicht so!
Hindenburg war in diesem tragischen Stück die Hauptfigur. 1925 wurde er (nach dem Sozialdemokraten Ebert) auf fünf Jahre zum »Ersatzkaiser« – oder, wie es hieß, zum Reichspräsidenten – gewählt und bevollmächtigt, den Reichskanzler und die Regierungen zu ernennen. Er war ein konservativer Militär und zu diesem Zeitpunkt bereits 78 Jahre alt. Und so war es Paul Ludwig Hans Anton von Beneckendorff und von Hindenburg (ja wirklich, so hieß er), der den Nachfolger für ein schier unmögliches Unterfangen ernannte – Heinrich Brüning von der Zentrumspartei, der als Reichskanzler in Müllers Fußstapfen trat –, und Brüning, der zum rechten Flügel der Partei gehörte und ihr Finanz- und Wirtschaftsexperte war, versuchte sich an einer Deflationspolitik. Brüning sah sich veranlasst, seine Politik mithilfe des Artikels 48 der Weimarer Verfassung durchzusetzen, regierte also mit sogenannten Notverordnungen, die nicht erst vom Reichstag gebilligt werden mussten. Die äußerste Rechte und Linke protestierten. Im September 1930 wurden Neuwahlen ausgerufen.
Und jetzt, ja jetzt ist es so weit, dass Hitler und die Nationalsozialistische Partei Deutschlands NSDAP mit ihrem Erdrutschsieg auf der Bühne der deutschen Reichspolitik erscheinen – und innerhalb von zwei Jahren von unbedeutenden 2,6 Prozent der Stimmen auf 18,3 Prozent in der Wählergunst steigen. Sie sind jetzt die zweitstärkste Kraft hinter den Sozialdemokraten.
Brüning bleibt unterdessen, u.a. als Bollwerk gegen die wachsende braune Gefahr, auf seinem Posten. Die Sozialdemokraten, die unter Otto Braun immer noch die größte Partei des Reiches sind, schwenken jetzt gerade deshalb auf eine »Tolerierungspolitik« ein – d.h. sie entscheiden sich, Brü
ning nicht zu stürzen. Die Kommunisten und die Nazis hingegen schießen sich auf eine strikte Oppositionspolitik ein. Also kommt es erneut zu Notverordnungen. 1931 greift Brüning 44 Mal auf die Notverordnungen zurück (1932 sogar 60 Mal). Was ist das gesagt, und wie versteht mans? , können wir uns mit Luther fragen. Nun, das bedeutet, dass die Parlamentarische Demokratie am Ende ist. Der Reichstag tritt immer seltener zusammen – und die Lage verschlimmert sich zusehends.
Im Herbst 1931 schließen sich Nazis, die Deutschnationale Volkspartei ( DNVP unter der Führung von Hugenberg) und die Frontsoldaten, »Stahlhelm«, zu einer nationalen Opposition gegen die Weimarer Republik zusammen und bilden die sogenannte »Harzburger Front«. Die Sozialdemokraten und die Gewerkschaftsbewegung antworten darauf geschlossen mit der Gründung der »Eisernen Front« und der Organisation »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« (die Farben der Weimarer Republik), um die Republik zu verteidigen. Die Stahlhelme und die Eiserne Front – ein gutes Jahrzehnt Demokratie hat in keinerlei Hinsicht die maskuline militärische Gestalt beseitigen können – im Gegenteil. Man brüstet sich damit.
Was die Republik hätte retten und Hitler verhindern können, wäre die Bildung einer Einheitsfront, einer echten Allianz zwischen den Sozialdemokraten und den Kommunisten – der Arbeiterklasse – gewesen. Gemeinsam hätten sie 1930 fast 38 Prozent der Wählerstimmen bekommen und in jenem Herbst ein natürliches Gleichgewicht gegen die von den Nazis ausgehende Bedrohung dargestellt (die KPD allein bekam 13,1 Prozent). Stattdessen lieferten sich ausgerechnet diese beiden Parteien die erbittertsten Kämpfe.
Im Mai 1932 verlor Brünings
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