Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen
ordentlich weiterrollte. Die Regeln waren überschaubar, im Grunde gewann die Mannschaft, die insgesamt die längsten Würfe erzielte.
Das gegnerische Team strotzte vor Kraft und Selbstbewusstsein, gab es doch keine Ausfälle in den eigenen Reihen zu beklagen. Und nachdem man kurz die beiden Ersatzspieler von auswärts gemustert hatte, gab man sich siegessicher. Als ich gleich meinen ersten Wurf versemmelte, die kalte Kugel war mir aus den tauben Fingern gerutscht, fühlte man sich in seiner Einschätzung bestätigt. Meine Mitstreiter zeigten sich solidarisch, klopften mir aufmunternd auf die Schultern, ein kräftiger, rotblonder Bursche namens Knut Harmsen erbot sich, mir schnell die richtige Wurftechnik zu zeigen. Er zog mich abseits in eine Ackerfurche, stellte sich dicht hinter mich, umfasste mich fest mit beiden Armen und blies mir heiß in den Nacken. Das war bei dieser Witterung nicht unangenehm.
Ich sah, wie sich auf Daryas Stirn eine steile Falte bildete. Bevor sie einschreiten konnte, war sie an der Reihe. Sie machte einen eleganten Hopser, drehte sich mehrmals mit erheblichem Schwung um die eigene Achse und schleuderte mit einem Schrei der Entschlossenheit ihr Geschoss durch die Luft. Die Kugel flog und flog und flog, kam auf und rollte, rollte, rollte. Ein sensationeller Wurf! Unsere Seite jubelte, die Gegner murrten.
Jetzt hatte Darya der Ehrgeiz gepackt. Sie feuerte die anderen an, »Dawai, dawai!«, stieß übelklingende Flüche aus, wenn jemand ihrer Meinung nach versagte, und kippte zwischendurch mit stoischem Gleichmut die Klaren, die ihr gereicht wurden.
Als ihr ein zweiter, ebenso fantastischer Wurf gelang, begehrte die Gegenseite auf. Das könne nicht mit rechten Dingen zugehen, raunte man hinter vorgehaltener Hand, die Russen seien schließlich für leistungssteigerndes Doping bekannt. Jemand kolportierte sogar, bei Darya würde es sich um eine sowjetische Goldmedaillen-Olympionikin im Kugelstoßen handeln.
»Quatsch«, sagte ich, »meine Schwiegermutter ist Cellistin. Da bekommt man so kräftige Arme.«
Nach mehreren Schnäpsen verständigte man sich darauf, dass Darya wohl ein Naturtalent sei.
Kurz vor Anbruch der Dunkelheit unterlagen wir mit einem Punkt Rückstand – mit einem derart knappen Ergebnis hatte keiner gerechnet, wir hatten es allein Darya zu verdanken.
Die anschließende Siegesfeier fand in einem Gasthof im benachbarten Strübbel statt. Knut, der mir den Nachmittag über liebevolle Betreuung hatte angedeihen lassen, hakte sich auf dem Weg dorthin vertrauensvoll bei mir unter. Er humpelte ein wenig, denn Darya hatte unabsichtlich gleich zweimal die Kugel auf seinen Fuß fallen lassen. Nun stolperte sie aus Versehen und trat ihm dabei von hinten in die Hacken.
Knut wunderte sich, dass eine Frau, die ein derartiges Händchen beim Boßeln hatte, so ungeschickt sein konnte.
»Das muss am Korn liegen«, sagte ich und flüsterte Darya zu: »Nun lass es gut sein. Der ist doch harmlos.« Sie guckte streng und trat vorsichtshalber noch einmal nach.
Nach der anstrengenden sportlichen Betätigung stürzten wir uns auf dampfenden Grünkohl, Würstchen und Kassler. Knut hätte nur allzu gern neben mir gesessen, doch Darya zwängte sich zwischen uns. Ich wärmte meine halb erfrorenen Hände an den heißen Schüsseln und beobachtete, wie sie unauffällig einen Pfefferstreuer in Knuts Teller entleerte. Ich fand, sie ging zu weit. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte sich der junge Mann schon die erste Gabel in den Mund geschaufelt.
»Ohauahauaha«, rief er, »dat is ja ma’ pikant!«
Anscheinend machte das Essen ihn erst richtig scharf, denn mehrmals rief er über Daryas Kopf hinweg: »Und nachher wird getanzt, ne?«
Da ich um sein Leben fürchtete, antwortete ich artig: »Du, ich kann gar nicht tanzen.«
»Macht nix. Ich auch nicht.«
Nachdem sich den ganzen Tag ein Schnaps an den anderen gereiht hatte und auch der Grünkohl flüssige Verdauungshilfe erforderte, artete die Feier langsam aus. Es wurde gegrölt und gelacht, ein Stuhl flog quer durch den Saal. Voller Erstaunen blickte Darya auf das Treiben.
»Tja«, sagte ich, »das hättest du uns Deutschen gar nicht zugetraut, was?«
Ein Bauer hatte seine Quetschkommode mitgebracht, norddeutsches Liedgut wurde zum Besten gegeben, von »Dat du mien Leewsten büst« bis zu »Herrn Pastor sien Kauh«. Auch die Shantys durften nicht fehlen, begeistert schmetterten Knut und ich »Wir lagen vor Madagaskar«.
Nach und nach wurden
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