Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen
Rufe lauter, dass Darya etwas singen möge. Sie zierte sich, ließ sich noch einmal bitten und noch einmal und stimmte dann mit klarer Stimme eine russische Weise an. Die Landbevölkerung lauschte ergriffen der melancholischen Melodie; auch wenn keiner den Text verstand, begriffen doch alle, dass es dabei nur um die Liebe oder den Tod gehen konnte.
Nur Knut schrie: »Wir sind hier nich auffer Beerdigung. Kannssu auch was, was ’n büschen fröhlicher is? Kanssu ›Kalinka, kalinka‹?«
Darya knurrte etwas wie »Idiot«, aber alle skandierten plötzlich »Kalinka, kalinka«, so dass sie sich geschlagen gab. Zur Strafe zwang sie uns, den Refrain auswendig zu lernen, und sagte ihn uns mehrere Male vor:
»Kalinka, kalinka, kalinka moja! W sadu jagoda malinka, malinka moja!«
Nach zehn Minuten hatten wir trotz oder dank gelockerter Zungen den Bogen raus. Ekstatisch brüllten wir »Kalinka, kalinka« und stampften dazu im Takt mit den Füßen. Erschrocken steckten der Wirt und andere Gäste ihre Köpfe zur Tür herein.
Spät in der Nacht brachte uns ein Taxi, auf das wir eine Stunde gewartet hatten, auf den Hof zurück. Darya wollte eigentlich laufen, ich hatte jedoch Angst, dass wir uns im Dunkeln verirrten, und war außerdem nicht mehr standfest.
Nach wenigen Stunden Schlaf waren die mittelschweren Kopfschmerzen keine Überraschung. Ich kroch aus meiner Kammer und fand mich allein. Die Boßelkönigin war schon abgereist.
Zeit, nach Hause zu fahren, dachte ich und packte meine Siebensachen. Mir war etwas flau im Magen, was nicht nur am gestrigen Abend lag. In ein paar Stunden würde ich Artjom wiedersehen.
Wie sollte ich dem stolzen russischen Mann gegenübertreten? Zerknirscht? Voller Freude? Mit dem Zorn der Gerechten? Nach wie vor war ich der Meinung, dass ein klärendes Gespräch anstand.
Ich verabschiedete mich von Heikes Eltern, bedankte mich herzlich für den netten Aufenthalt und versprach, bald einmal wiederzukommen.
»Ruft an, wenn ihr Hilfe beim Boßeln braucht«, sagte ich und packte die Care-Pakete mit Kohleintopf in den Kofferraum. Auf der Fahrt nach Hause summte ich ununterbrochen: »Kalinka, kalinka«.
[home]
21
M eine Wohnung empfing mich gähnend leer. Kurz erschrak ich, weil ich dachte, Artjom sei ausgezogen. Er hatte aber nur aufgeräumt. In der Küche stand ein Strauß Rosen auf dem Tisch. Immerhin. Ich rief ihn auf seinem Handy an und erreichte die Mailbox.
»Bin wieder da«, hinterließ ich kurz und bündig.
Nachdem ich meine Sachen ausgepackt, Wäsche gewaschen und die Vorräte eingefroren hatte, tigerte ich durch die Zimmer und wartete. Auch Alexej ließ sich nicht blicken. Da sich mein Gefühl der Einsamkeit verstärkte, klingelte ich bei Frau Hinrichs. Keiner da.
Ich meldete mich bei meiner Mutter, der noch gar nicht aufgefallen war, dass ich für mehrere Tage die Stadt verlassen hatte.
»Hallo, da bin ich wieder!«
»Warst du weg?«
»Äh, ja. Kurz. Bei Heikes Eltern auf dem …«
»Kind, sei mir nicht böse«, fiel sie mir ins Wort, »ich habe leider keine Zeit zum Plaudern. Ich will mit Rostislav ins Reisebüro.«
Na toll, dachte ich, ich stecke in einer schweren Ehekrise, und keinen interessiert’s. Nicht meinen Mann. Und nicht meine Mutter.
Kurz nach neunzehn Uhr drehte sich endlich ein Schlüssel im Schloss. Ich legte mich schnell aufs Sofa und tat so, als würde ich lesen. Dann stand tatsächlich Artjom vor mir. Übernächtigt sah er aus, schwarze Schatten lagen unter seinen Augen, rasiert hatte er sich seit Tagen nicht mehr.
»Hallo, Paula.«
Na, das ist mal eine herzliche Begrüßung, dachte ich. Kein Kuss. Keine Umarmung. Nichts. Er stand. Ich lag. Wir guckten uns an.
»Wir sollten reden«, sagte er knapp und setzte sich in die Küche. Wie ein geprügelter Hund schlich ich hinter ihm her. Das hatte ich mir etwas anders vorgestellt …
Eine Weile noch war es still zwischen uns, dann eröffnete Artjom das Feuer.
»Du kannst mich doch nicht einfach verlassen!«
»Ich hab dich nicht verlassen. Ich brauchte nur ein paar Tage Ruhe.«
»Die hättest du auch hier haben können.«
»Wie denn? Ständig hockt uns Alexej auf der Pelle, deine Eltern marschieren ein und aus …«
»Aha, jetzt ist also wieder meine Familie schuld!«
»Artjom, es geht nicht um deine Familie. Es geht um uns beide. Darum, dass ich nicht weiß, was ich dir noch glauben kann. Kannst du dir vorstellen, wie sich das für mich anfühlt?« Nein, das konnte er nicht.
»Diese kleinen
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