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Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen

Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen

Titel: Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Fröhlich
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deutete schließlich auf ein Schwarzweißfoto.
    Im Hintergrund war eine lachende, platinblonde und noch sehr junge Darya zu erkennen. Vor ihr stand ein kleines Mädchen mit geflochtenen Zöpfen, sie trug eine gestärkte weiße Bluse und einen Faltenrock. Einer ihrer Kniestrümpfe war bis zum Knöchel hinuntergerutscht. Verlegen lächelnd blickte sie in die Kamera.
    »Moja dotsch«, sagte Darya und schlug das Wörterbuch auf. Ihre Finger flogen über die Seiten, dann tippte sie auf ein Wort.
    »Tochter?«, fragte ich ungläubig. »Das ist deine Tochter? Artjom hat eine Schwester?«
    »Tot. Tuberkuljos.«
    »Oh.«
    Sie nahm das nächste Album und zeigte auf ein anderes Bild. Ein Mann in einem dunklen Anzug, die Haare streng gescheitelt, der Blick herausfordernd bis trotzig.
    »Moj brat«, sagte Darya und hielt mir wiederum das Wörterbuch unter die Nase.
    »Dein Bruder?«
    »Da. Tot. Kain Arbait, nur Wodka.«
    »Oh.«
    »Papa – tot. Ganz krank. Kain Medizin. Mama – tot. Ganz Kummär.«
    Tränen liefen über Daryas Gesicht, ich reichte ihr das Toilettenpapier und nahm ihre Hand. Ich suchte nach tröstenden Worten und fand keine.
    »Russland nix gutt. Mänsch arm. Kain Arbait. Kain Perspektiva. Hier gutt. Kindär kain Tuberkuljos. Viel Perspektiva. Wenn du hast Optzija, du kommst hier. Du verstähst?«
    Ich verstand. Was ich nicht begriff, war, warum Darya auf dem Sofa saß und nicht mein Mann.
    »Wieso ist Artjom nicht gekommen, um mir das zu erzählen?«, fragte ich sie.
    Wieder schnappte sie sich die Übersetzungshilfe und zeigte auf das Wort »Stolz«.
    »Artjom gutt Mann«, sagte sie, »Frau muss hören Mann. Mann ist Boss.«
    Da ich ahnte, dass eine feministische Grundsatzdiskussion mit Darya zu nichts führen würde, holte ich den vorletzten Riesling aus der Küche und schenkte uns die Gläser randvoll. Wir prosteten uns zu, schauten uns die restlichen Fotos an, die Erinnerungen erhellten Daryas Gesicht, sie lachte und weinte gleichzeitig und erzählte mir auf Russisch tausendundeine Geschichte. Ich lauschte dem Sound ihrer Sprache und schlief, gegen ihre Schulter gelehnt, ein.
     
    Nach einem ausgiebigen Frühstück war ich zur Abfahrt bereit. Darya schüttelte den Kopf.
    »Du willst noch hierbleiben?«, fragte ich. Sie nickte.
    »Warum?«
    »Ist heute Bose.«
    »Wer ist böse?«
    »Booo-se!«
    »Ach, du meinst Boßeln.«
    »Da.«
    Heikes Mutter hatte Darya am Tag zuvor in die Geheimnisse des Dithmarscher Nationalsports eingeführt. Darya hatte zwar kaum etwas verstanden, aber immerhin so viel, dass es sich um ein größeres gesellschaftliches Event handelte, bei dem Gäste gern gesehen waren.
    Ich versuchte, ihr begreiflich zu machen, dass Boßeln nicht das war, was sie erwartete. Stundenlang würden wir in der Eiseskälte über brachliegende Felder stolpern und Kugeln durch die Gegend schmeißen, umringt von Landwirten, die im Verlauf des Wettkampfs dem Korn zusprachen und beim sich anschließenden Gruppenbesäufnis in der örtlichen Gastronomie vollends aus dem Häuschen gerieten.
    Es war nichts zu machen. Darya wollte boßeln. Heikes Eltern waren begeistert. Wegen einer Grippewelle fielen bewährte Mitstreiter aus, man war dankbar für die Unterstützung aus der Stadt. Um die Mittagszeit versammelte sich unser Team auf dem Hof, aus den mitgebrachten Bollerwagen wurden erste Kurze serviert, ich stellte mich vor und schüttelte Hände.
    Es konnte losgehen, wir warteten nur auf meine Schwiegermutter, die noch dabei war, das passende Outfit zusammenzustellen. Ich hatte sie gebeten, sich warm und zweckmäßig anzuziehen, schließlich würden wir den halben Tag in unwirtlichem Gelände verbringen.
    Als die russische Diva die Bühne betrat, ging ein Raunen durch die Menge. Darya trug glänzende schwarze Gummistiefel mit Keilabsatz, eine eng anliegende knallrote Hose, eine abgesteppte und taillierte Skijacke, schwarz, mit großen goldenen Knöpfen, eine rote Nerzstola zu passender Pelzmütze. So etwas hatte Schülp noch nicht gesehen.
    Selbst ich wusste bis dato nicht, dass es hochhackige Gummistiefel gab. Eine Domina auf dem Weg nach Kitzbühel, dachte ich und war ein wenig stolz auf meine Schwiegermutter.
    »Na, denn man tou«, sagte Heikes Vater und grinste sich einen.
    Die Boßelstrecke ging mehrere Kilometer über steinhart gefrorene Felder. Es galt, eine mit Blei gefüllte Holzkugel so weit wie möglich zu werfen. Der Trick bestand darin, die Kugel so zu schmeißen, dass sie nach ihrer Landung noch

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