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Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)

Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)

Titel: Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annabel Pitcher
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ihrem braunen Zeigefinger deutete Sunya auf das Tuch, das ihr Haar und ihren Nacken bedeckte. Ich bin Girl M, Spider-Man . Dann ging sie auf mich zu und strich über meine Hand, und bevor ich sie wegziehen konnte, war Sunya verschwunden. Mein Mund war trocken geworden, und meine Augen fühlten sich an, als seien sie so groß wie Planeten. Sunya rannte jetzt den Korridor entlang, und zum ersten Mal fiel mir auf, dass ihr flatterndes Kopftuch aussah wie der Umhang eines Superhelden.

5
    Heute ist es fünf Jahre her. Im Fernsehen laufen nur Sendungen über den 9. September. Es ist Freitag, und weil wir Schule hatten, konnten wir nicht ans Meer fahren. Vielleicht machen wir das morgen. Dad hat noch nichts gesagt, aber ich habe gesehen, dass er sich St. Bees im Internet angeschaut hat. Das ist von hier aus der nächste Strand, und gestern Abend hat Dad die Urne gestreichelt, als wolle er sich verabschieden.
    Wahrscheinlich macht er es dann doch wieder nicht. Deshalb lasse ich das mit dem Abschied auch noch bleiben. Ich nehme dann Abschied, wenn Dad sich wirklich von Rose’ Asche trennt und sie ins Meer schüttet. Vor zwei Jahren hat er von mir verlangt, dass ich die Urne anfasse und Abschiedsworte flüstere, und ich kam mir blöd vor, weil ich wusste, dass Rose mich nicht hören kann. Und noch blöder fühlte ich mich, als die Urne am nächsten Tag wieder auf dem Kaminsims stand und ich das Ganze umsonst gemacht hatte.
    Jas ist heute nicht in die Schule gegangen, weil sie so durcheinander ist. Ich vergesse manchmal, dass Rose ihre Zwillingsschwester war und die beiden zehn Jahre lang immer zusammen waren. Eigentlich zehn Jahre und neun Monate, wenn man die Zeit im Bauch mitrechnet. Ich frage mich, ob die beiden sich anschauen konnten, als sie in Mums Bauch waren. Jas hat es bestimmt versucht. Sie ist so was von neugierig. Vorgestern habe ich sie in meinem Zimmer dabei erwischt, wie sie meine Schultasche durchsuchte. Wollte nur gucken, ob du deine Hausaufgaben gemacht hast , sagte sie. Das hat sonst immer Mum erledigt.
    War wohl ziemlich eng zu zweit in Mums Bauch. Wahrscheinlich haben Rose und Jas sich deshalb nicht so gut verstanden. Jas erzählte mal, Rose habe immer alles bestimmen wollen und geheult, wenn sie nicht ihren Willen kriegte. Ich bin froh, dass sie gestorben ist und nicht du , hatte ich da zu ihr gesagt und nett gelächelt, aber Jas hatte die Stirn gerunzelt. Ich meine, wenn schon eine von euch sterben musste, sagte ich . Da fing Jas’ Unterlippe zu zittern an. Ist es nicht ein bisschen netter ohne sie , fragte ich. Ich war ziemlich sauer, weil Jas doch selbst gesagt hatte, dass Rose nervig war. Stell dir mal einen Schatten ohne den Mensch dazu vor , sagte Jas. Ich dachte an Peter Pan. Sein Schatten hatte in Wendys Zimmer viel mehr Spaß, als Peter nicht da war und nach ihm suchte. Das wollte ich Jas erklären, aber sie hatte angefangen zu weinen. Also gab ich ihr ein Taschentuch und machte den Fernseher an.
    Als ich heute Morgen meine Chocos aß, fragte mich Jas, ob ich auch zuhause bleiben wollte. Ich schüttelte den Kopf. Bist du sicher , fragte sie, während sie in ihrem Laptop das Horoskop anschaute. Du musst nicht in die Schule, wenn es dir nicht gut geht. Ich nahm mir die Sandwiches vom Tresen, die sie mir hingelegt hatte. Freitags haben wir Kunst, und das ist mein Lieblingsfach , sagte ich. Und die sechste Klasse darf heute am Schulkiosk einkaufen . Ich rannte nach oben, um meine zwanzig Pfund von Oma zu holen.
    In der Schulversammlung vor dem Unterricht mussten alle ein Gebet für die Familien der Opfer des neunten September sprechen, und ich fühlte mich, als hinge ein Scheinwerfer über meinem Kopf. In London fand ich den neunten September ganz schlimm, weil alle an der Schule wussten, was passiert war. Das ganze Jahr über redete keiner mit mir, nur an diesem Tag wollte jeder mein Freund sein. Sie sagten Rose fehlt dir bestimmt oder Du vermisst Rose sicher sehr , und ich musste Ja sagen und traurig nicken. Aber hier weiß keiner davon, ich muss also nichts heucheln, und ich will auch, dass das so bleibt.
    Als alle Amen sagten, schaute ich auf. Zuerst dachte ich, es hätte wirklich geklappt, doch dann sah ich zwei glitzernde Augen. Sunya saß mit verschränkten Beinen da, das Kinn in die linke Hand gestützt, und knabberte an ihrem kleinen Finger, während sie zu mir rüberstarrte. Mir fiel plötzlich wieder ein, dass ich gesagt hatte Meine Schwester ist von einer Bombe zerfetzt worden . Und

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