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Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)

Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)

Titel: Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annabel Pitcher
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weil wir uns zusammen auf die Rückbank quetschen mussten. Rose hatte den Beifahrersitz gekriegt. Dad hatte die Urne angeschnallt, aber er hatte vergessen, mich ans Anschnallen zu erinnern.
    Wir fuhren von der Autobahn ab und einen Hügel runter, und plötzlich sahen wir das Meer, eine blaue Linie, so grade und schimmernd, als hätte man sie mit Lineal und Glitzerstift gezeichnet. Als wir näher kamen, wurde die Linie breiter, und Dad schien wegen seinem Gurt nicht richtig atmen zu können. Er zog ihn ständig von seiner Brust weg, als kriegte er keine Luft mehr. Als wir auf dem Parkplatz anhielten, zerrte Dad so heftig an seinem Kragen, dass ein Knopf absprang und genau die Mitte vom Lenkrad traf. Volltreffer , schrie ich, aber keiner lachte. Dad trommelte mit den Fingern aufs Armaturenbrett, was sich anhörte wie galoppierende Pferde.
    Ich überlegte gerade, ob wieder Esel am Strand sein würden, als Jas ausstieg. Dad zuckte zusammen. Jas ging zum Parkautomaten und warf ein paar Münzen ein. Als das Ticket rauskam, stand Dad schon auf dem Parkplatz. Die Urne hielt er im Arm. Beeil dich , sagte er zu mir, und ich schnallte mich ab und stieg aus. Hier roch es nach Bratfisch und Pommes, und mein Magen knurrte.
    Als wir über den Kies zum Meer gingen, entdeckte ich fünf gute Springer. Das sind flache Steine, die übers Wasser hüpfen, wenn man sie richtig wirft. Jas hatte mir das mal gezeigt. Ich hätte die Springer gerne aufgehoben und damit gespielt, aber ich wollte nicht, dass Dad sich aufregt. Er rutschte auf Algen aus, und die Urne wäre fast auf dem Strand gelandet, was gar nicht gut gewesen wäre. Rose’ Asche ist ganz fein, und dann hätte sie sich mit dem Sand vermischt. Das dürfte ich eigentlich nicht wissen, aber als ich acht war, habe ich mal in die Urne geschaut. War nicht so spannend. Ich hatte gedacht, es gäbe beige Asche von der Haut und weiße von den Knochen. Ehrlich gesagt sah die Asche echt langweilig aus.
    Es war windig, und die Wellen klatschten auf den Strand und sahen so schaumig aus wie geschüttelte Cola. Ich hätte gern die Schuhe ausgezogen und wäre im Wasser rumgewatet, aber ich traute mich nicht. Dad fing an, Abschied zu nehmen. Er sagte dieselben Sachen wie im letzten Jahr und im Jahr davor. Dass er Rose jetzt loslasse und so. Aus den Augenwinkeln sah ich etwas Orangegrünes in der Luft. Als ich aufschaute und in die Sonne blinzelte, segelte ein Drachen unter den Wolken umher, so dass aus dem Wind etwas richtig Schönes wurde.
    Sag was , murmelte Jas, und ich guckte auf den Boden. Dad starrte mich an. Ich weiß nicht, wie lange er schon darauf gewartet hatte, dass ich etwas sagte. Ich legte die Hand auf die Urne und guckte ernst und sagte Wiedersehen, Rose und Du warst eine liebe Schwester , was eine Lüge war, und Du wirst mir fehlen , was eine noch größere Lüge war. Ich konnte es kaum erwarten, sie endlich loszuwerden.
    Dad machte die Urne wirklich auf. Bei allen Jahrestagen, an die ich mich erinnern kann, hatte er das nicht geschafft. Jas schluckte, und ich hielt die Luft an. Ich sah nur noch Dads Finger, die Urne und den bunten Drachen, der am Himmel herumtanzte. Ich bemerkte einen tiefen Schnitt an Dads Mittelfinger und fragte mich, wie das passiert war und ob es wehtat. Dad versuchte, in die Urne reinzugreifen, aber seine Finger waren zu dick. Er blinzelte ein paarmal und biss die Zähne zusammen. Dann streckte er eine Hand vor. Seine Handfläche sah so trocken aus wie bei einem alten Mann. Dad neigte die Urne ein bisschen schräg, richtete sie aber gleich wieder auf. Dann kippte er sie ein bisschen weiter als beim ersten Mal, bis die Öffnung fast in seiner Hand lag. Ein paar graue Teilchen kamen heraus. Rasch richtete er die Urne wieder auf und keuchte. Ich starrte auf die Asche in seiner Hand und fragte mich, welche Teile von Rose das wohl waren. Schädel. Zeh. Rippen. Es konnte alles sein. Dad berührte die Ascheteilchen sachte mit dem Daumen und flüsterte irgendwas, das ich nicht hören konnte.
    Er ballte die Hand zur Faust, so fest, dass die Knöchel weiß wurden, und schaute zum Himmel hoch. Dann schaute er den Strand entlang. Guckte mich und Jas an. Er schien darauf zu warten, dass jemand TU ES NICHT sagte, aber wir blieben stumm. Ich dachte, er würde die Faust jetzt aufmachen und die Asche in den Wind streuen, aber er gab stattdessen die Urne Jas und trat einen Schritt vor. Eine Welle machte seine Schuhe nass. Ich spürte, wie ich rot wurde. Dad sah aus wie ein

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