Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)

irgendwas stimmte mit ihren Ohren nicht. Aber obwohl sie ein geplatztes Trommelfell hatte, hörte sie Dad noch Rose Rose Rose schreien.
    Später fand man heraus, dass es ein terroristischer Anschlag gewesen war. In fünfzehn Mülleimern in der ganzen Stadt waren Bomben gelegt worden, die am neunten September alle gleichzeitig explodieren sollten. Drei funktionierten nicht, also gingen nur zwölf hoch, aber dabei starben zweiundsechzig Menschen. Rose war die Jüngste. Niemand wusste, wer das gemacht hatte, bis eine Gruppe Muslime im Internet schrieb, dass sie es für Allah getan hatten. Das ist das muslimische Wort für Gott, und es reimt sich auf ein anderes Wort, das ich ganz oft gesagt habe, als ich siebeneinhalb war und Zauberkünstler werden wollte. Voilà .
    Im Fernsehen hatte man die Bilder von damals so zusammengesetzt, dass sie wie ein Film aussahen. Rose kam nicht darin vor, weil Mum und Dad es den Fernsehleuten nicht erlaubt hatten, aber es war interessant zu sehen, was bei den anderen Explosionen in der Stadt passiert war. Ein Mann, der starb, hätte eigentlich gar nicht in London sein sollen. Sein Zug von der Euston Station nach Manchester war wegen einer Signalstörung ausgefallen. Statt auf den nächsten Zug zu warten, beschloss der Mann, ein bisschen durch Covent Garden zu bummeln. Weil er Hunger hatte, kaufte er sich ein Sandwich, und er warf die Verpackung weg und war tot. Wenn das Signal nicht kaputt gewesen wäre oder er kein Sandwich gekauft hätte, oder selbst wenn er es ein bisschen schneller oder langsamer gegessen hätte, dann hätte er die Verpackung nicht genau in dem Moment in dem Mülleimer geworfen, als die Bombe explodierte. Und da wurde mir etwas klar. Wenn wir nicht am Trafalgar Square gewesen wären oder es dort keine Tauben gegeben hätte, oder wenn Rose nicht so wild, sondern artiger gewesen wäre, dann würde sie noch leben, und ich hätte eine glückliche Familie.
    Das machte mich irgendwie traurig, und ich schaltete um. Auf dem nächsten Sender gab es nur Werbung. Jas kam mit hängenden Schultern rein und sagte Dad schläft jetzt . Sie hörte sich erleichtert an, und ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Ich hatte ihr nicht geholfen. Ich hatte nur den Fernseher ganz laut gestellt, damit ich nicht hören musste, wie Dad kotzte. Morgen geht es ihm bestimmt besser , sagte Jas. Wollen wir Werbungen-Raten spielen , fragte ich sie. Das war ein Spiel, das ich mir ausgedacht hatte. Man musste ganz schnell rufen, für was die Werbung war, bevor sie es im Fernsehen sagten. Sie nickte, doch dann kam ein Spot, den wir beide nicht kannten. Man sah ein großes Theater, und ein Mann sagte Ihre Träume werden wahr in der größten Talentshow Großbritanniens. Wählen Sie diese Nummer, um ein neues Leben zu beginnen . Ich stellte mir vor, wie toll es wäre, wenn man wie ein Erwachsener dort anrufen und sich ein neues Leben bestellen könnte, wie eine Pizza oder so. Ich würde mir dann einen Dad bestellen, der keinen Alkohol trank, und eine Mutter, die ihre Familie nicht verließ. Aber an Jas würde ich rein gar nichts ändern.
    Das kannst du morgen nicht anziehen , sagte Jas und deutete auf mein T-Shirt. Wir streuen morgen Rose’ Asche ins Meer, und Dad will, dass wir schwarze Sachen tragen . Ich schrie Chocos , weil jetzt grade ein Spot von Kellogg’s anfing.
    Ich muss seit London ziemlich gewachsen sein. Nichts passt mehr richtig. Ich zog eine schwarze Hose an und über das Spider-Man-Shirt einen schwarzen Pulli, aber am Kragen guckte noch ein bisschen Blau und Rot raus. Jas verdrehte die Augen, als sie das sah, doch Dad merkte es gar nicht. Er starrte die ganze Zeit auf die Urne, die auf dem Küchentisch stand, während wir frühstückten. Sie sah wie ein riesiger Salzstreuer aus, aber ich glaube nicht, dass Rose auf Pommes besonders gut schmecken würde.
    Die Fahrt nach St. Bees dauerte zwei Stunden, und wir hörten dabei dieselbe Kassette wie immer am Jahrestag. Immer wieder und wieder und dann noch mal. Das Tape rauscht schon, aber man hört immer noch Mum Klavierspielen und meine Schwestern Mut zum Fliegen singen. Dein Lächeln hebt meine Seele zum Himmel. Deine Kraft gibt mir Mut zum Fliegen. Das hatten sie zu Dads Geburtstag aufgenommen, drei Monate vor Rose’ Tod.
    Wunderschön , sagte Dad mit erstickter Stimme, als Rose ihr Solo sang. Eine Engelsstimme . Jeder, der Ohren hat, kann hören, dass Jas viel besser singt, und das sagte ich ihr auch. Wir saßen nebeneinander im Auto,