Meine Schwester und andere Katastrophen
ergänzte sie unbeholfen.
Erst jetzt meldete sich Geoffrey zu Wort. »Wir können als Eltern nicht tatenlos zusehen, wie die Beziehung unserer Töchter vor die Hunde geht, während wir die Hände in den Schoß legen.«
Ich nickte. Er hatte sich die Worte erst beim Sprechen zurechtgelegt und klang unbeholfen - aber das gefiel mir.
»Das muss ich erst mal verdauen«, sagte ich.
Cassie war adoptiert. Änderte das wirklich etwas? Mein
Herz pochte. Vielleicht ja. Ich hatte eine Schwester. Die aber nicht meine Schwester war. Ich konnte kaum glauben, dass Vivica und unser Vater es geschafft hatten, dieses Geheimnis über so viele Jahre zu bewahren. Ich hätte gedacht, dass ihnen wenigstens einmal, nach einem Hochzeitstagessen mit zu viel Sherry und zu vielen Gläsern Rosé-Champagner, unter verlegenem Kichern eine Andeutung entschlüpft wäre, an die Oberfläche getrieben von ihrem schlechten Gewissen und dem Druck, nichts sagen zu dürfen.
Ich hätte es bestimmt ausgeplaudert. Die Tatsache wäre ständig präsent gewesen - in meinen Gedanken, auf meiner Zungenspitze -, und was ich auch getan hätte, wo ich auch gewesen wäre, mit wem ich auch zusammen gewesen wäre, ich hätte mir immerzu gedacht, du weißt es nicht, aber wenn du nur wüsstest! Ich hätte es verraten. Und sei es nur, um mein schlechtes Gewissen mit einer Bestätigung von außen zu verwässern, denn mit so einer Geschichte konnte man eine Menge Mitleid aus seinen Freunden herauspressen: OGott, erstes Baby zu groß und dick, irreparable Schäden am Beckenboden … alles ausgeräumt … Trauma … gebrochenes Herz … soziale Pflicht … ungewolltes Neugeborenes … ohne Heim. Wie eine Katze.
Vivica zündete sich die nächste Zigarette an, während ich auf Fletchs gebohnerten Teakboden starrte. Obwohl ich Vivicas biologisches Kind war, blieb sie mir fremd. Sie war ein durch und durch harter Mensch, ein Charakter wie eine gebrannte Mandel. Cassie war ihr viel ähnlicher, obwohl sie nicht mit ihr verwandt war. Vielleicht sollte ich das anders ausdrücken.
Jetzt, nachdem ich die Fakten kannte, bewunderte und verachtete ich Vivica zugleich für ihre stählerne Entschlossenheit, das Praktische über ihre Gefühle zu stellen. Sie war
fähig gewesen, die nicht perfekte Wahrheit in einer dunklen Ecke zu verstecken, sie aus ihren Gedanken zu verbannen, und stattdessen eine adrette, ansehnliche Realität zu schaffen, in der sie und unser Vater die kultivierten Eltern zweier perfekter Mädchen waren - wobei allerdings die Zweitgeborene deutlich perfekter war als die Erste.
Am meisten ärgerte mich an alldem, dass Vivica den Status genoss, Mutter von Cassandra Montgomery zu sein, einer Anwältin - und auch ich war keine Totalversagerin, selbst die Sexkolumne hatte etwas Gewagtes, Schlüpfriges gehabt. Dabei hatte sie als Mutter wirklich miese Arbeit geleistet. Einmal litten Cassie und ich an einer schweren Darmgrippe, und der Doktor hatte erklärt: »Nur noch Kohlehydrate - trockener Toast und Pellkartoffeln - und vielleicht weich gekochte Eier als Proteinquelle. Keine Milchprodukte, kein Obst, nichts Ausgefallenes.« Aufgekratzt hatte Vivica uns aus der Praxis geführt. »Phantastisch!«, hatte sie unserem Vater zugejubelt. »Lass uns beten, dass der Dünnpfiff anhält. Dann brauche ich die ganze Woche nicht zu kochen!«
Wäre sie Bauunternehmerin gewesen, hätte ich sie der Gewerbeaufsicht gemeldet, und die hätte ihr ein Bußgeld aufgebrummt. Cassies Verdienste waren ganz allein Cassies Werk und hatten nichts mit Vivica zu tun. Cassie hätte auch Erfolg gehabt, wenn sie von einem Wolfsrudel großgezogen worden wäre. Und meine Erfolge - wenn man sie denn als solche bezeichnen konnte - hatte ich trotz meiner Mutter errungen. So wie ich es sah, hatte Vivica ein geradezu frivoles Leben geführt. Der Job war für sie ein egoistischer Zeitvertreib. Ihr Gehalt gab sie beim Friseur wieder aus. So etwas wie Nächstenliebe war kaum zu spüren. Ich hatte nicht feststellen können, dass sie sich für ihre Kinder aufopferte.
Vielleicht war genau das mein Problem - dass ich in jeder
Mutter eine Märtyrerin sehen wollte. Mich selbst eingeschlossen.
War ich zu streng? Immerhin hatte sie mit ihren Erziehungsmethoden - oder ihrem Wahnsinn - zwei voll zurechnungsfähige Erwachsene hervorgebracht. Und jetzt stellte sich heraus, dass Vivica ebenfalls gelitten hatte - was, wie jeder weiß, mehr oder weniger ein Freibrief ist, anderen ebenfalls Leid zuzufügen. War sie am Ende
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