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Meine Schwester und andere Katastrophen

Titel: Meine Schwester und andere Katastrophen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maxted
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schuldlos?
    Ich schüttelte den Kopf. Vivica und Geoffrey sahen sich kurz an und rutschten auf ihrem Sitz herum. Meinetwegen konnten sie ruhig warten. Ich hatte auch lange darauf warten müssen, dass sie genug Respekt mir gegenüber entwickelten, um offen darüber zu sprechen, warum meine Kindheit ein solches Chaos gewesen war, und nun, da dieser Tag gekommen war und das Geheimnis endlich gelüftet wurde, war ich immer noch enttäuscht.
    Richtig, in letzter Zeit war Vivica so süß, dass man sie in kochende Milch rühren und Toffee aus ihr machen könnte. Und doch reichte das als Entschädigung nicht aus. Ich war wütend auf ihre strahlende, alberne Leichtlebigkeit und auf ihre fröhliche Ignoranz, wie rücksichtslos sie im Lauf der Jahre immer und immer wieder auf meinem Selbstbewusstsein herumgetrampelt war. Sie hatte nicht die leiseste Vorstellung, welche Konsequenzen ihr Verhalten gehabt hatte, und sie hatte kein Interesse daran, es herauszufinden. Und Geoffrey! Er war der tumbe Komplize an ihrer Seite.
    Als ich sieben Jahre alt war, beschloss Vivica, dass ihr die knabenhafte Frisur von Una Stubbs in Cliff Richards Film Summer Holiday gefiel. Vorsichtshalber probierte sie den Schnitt erst einmal an mir aus und schnitt mir die Haare dabei so kurz, dass mir nur noch eine Schraube links und rechts im Hals fehlte, um den Look perfekt zu machen. (Daraufhin
sah sie davon ab, ihre Haare kurz zu schneiden.) Sie hatte mir einen orangefarbenen Frotteebikini fürs Schwimmbad gekauft und dann das Oberteil verloren. Im Wäschewaschen war sie hoffnungslos; ständig schrumpfte sie Sachen ein, färbte sie rosa oder stopfte sie in einem verknitterten Haufen - Falten und Bügeln muteten zu sehr wie Hausarbeit an - in die Schränke, und zwar nicht immer in die richtigen.
    »Zieh einfach nur die Hose an, Schatz. Schließlich hast du oben sowieso nichts zu bieten.« So oder so ähnlich musste sie es ausgedrückt haben - genau wusste ich es nicht mehr -, aber ich wusste noch ganz genau, was eine Dame vorwurfsvoll zu mir sagte, als ich mit hochrotem Kopf und nackter Brust aus der Umkleidekabine trat: »Das ist die Damen umkleide.«
    Damals war ich viel zu beschämt, ich zu sein, als dass ich wütend auf Vivica gewesen wäre, aber jetzt fiel mir alles wieder ein - bewehrt mit der Munition, die sie mir mit ihrem Geständnis gegeben hatten -, und mir wurde flau vor Zorn. Ich versuchte, etwas davon auf unseren Vater zu richten, um fair zu bleiben, merkte aber, dass er nicht wichtig genug gewesen war, womit das Urteil über ihn ebenfalls gefällt war.
    Ich musste sie zur Rede stellen. Jetzt! Es ging nicht anders. Ich sah mich in der Jerry Springer Talkshow sitzen, unglaublich fett, die Haare zu einem hoch sitzenden Ponyschwanz gebündelt, so als wollte ich mir ein Gummiband-Facelifting verpassen. Und Vivica zur Rede stellen! Der orangefarbene Bikini! Die Schlüsselringkollektion! Der Hebräischunterricht! Der jungenhafte Haarschnitt! Die unerträgliche Kocherei! Die Kassette mit Noel Edmonds’ lustigen Telefonstreichen ! Vivica würde auf ihrem Stuhl sitzen, knallroten Lippenstift und hautenge Jeans tragen, und das Publikum würde sie als grauenvolle Mutter ausbuhen. Noch während der Abspann über den Bildschirm lief, würde sie heulen: »Es
tut mir leid, es tut mir so leid, meine liebe, liebe Tochter, bitte vergib mir! Ich liebe dich so sehr! Ich will alles wiedergutmachen, ich werde …«
    Was genau würde sie tun?
    »Ich hatte immer das Gefühl, dass Cassie ganz anders ist«, sagte ich zum Ansporn.
    »Wir können das ein andermal ausführlich bereden«, sagte Vivica und drückte gleichzeitig ihre dritte Zigarette in dem Aschenbecher mit dem Wappen von London Arsenal aus. »Wir hatten mehr als genug Aufregung für einen Tag.« Sie wedelte den Rauch vor ihrem Gesicht beiseite, und die Geste wirkte, als wollte sie etwas Unwillkommenes unter den Teppich kehren. »Was höre ich da? Du trinkst? Juden trinken nicht. Das ist lächerlich!«
    »Mutter«, sagte ich.
    Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Nach längerem Überlegen kam ich zu dem Schluss, dass wir es wirklich ein andermal bereden würden und dass ich ihr eine Entschuldigung abpressen würde, selbst wenn ich dazu die chinesische Folter einsetzen musste. Aber selbst jetzt versuchte sie mir auf ihre unbeholfene Weise zu helfen - sie war wirklich unbeholfen -, obwohl ich mir immer wieder vor Augen halten musste, dass es bei diesem Besuch darum ging, mir zu helfen. Ich

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