Meine Schwester und andere Katastrophen
und glücklich, dass sie sich ihrer neuen Tante gegenüber so cool gab - nein, sie gab sich nicht cool, sie blieb cool. Seht ihr, wollte ich ihren Blutsverwandten
am liebsten sagen: Ich, Geoffrey und Vivica, wir sind nicht so übel. Cassie hatte die Möglichkeit, uns im Stich zu lassen, um mit euch einen strahlenden Neuanfang zu wagen, aber sie hat sie nicht ergriffen.
Und trotzdem.
Während die rationale Erwachsene in mir Verzeihen und Verständnis predigte, schmollte die fußstampfende Fünfjährige in mir immer noch. Ich hatte mehr Verständnis für die Fehler, die meine Eltern gemacht hatten, aber ich wollte immer noch richtig und unverhohlen um Verzeihung gebeten werden, und zwar unter Tränen der Reue und Scham.
Ich musste an Tomas denken, der sich mit aller Kraft dagegen wehrte, zurechtgewiesen zu werden. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, trug seine kleine Schwester einen Sticker auf der Stirn, auf dem zu lesen war: »In der Obstschale 4-5 Tage nachreifen lassen«.
»Du klebst keine Sticker auf deine Schwester!«, hatte Tabitha ihn angebellt. »Sie ist KEIN Spielzeug! Hast du verstanden?«
»Mummy!«, hatte Tomas erwidert. »Ich habe es wirklich satt mit dir! Wenn du noch mal so schimpfst, dann schmeiß ich deinen Computer in den Mülleimer!«
»Hör auf, mir zu drohen! Du bist ungezogen! Ich bin die Erwachsene! Ich habe hier das Sagen!«
»Schrei mich nicht an, das verletzt meine Gefühle!«
Tomas weigerte sich strikt, ein Vergehen einzugestehen. Trotzdem war er der Erste - wie mir und hoffentlich auch Tabitha aufgefallen war -, der nach einer Meinungsverschiedenheit die Hand zur Versöhnung reichte. Manchmal wurde die Auseinandersetzung handgreiflich, und Tomas begann zu kratzen und zu beißen. Dann schleifte ihn Tabitha aus dem Zimmer und schloss die Tür. Tomas schrie und heulte
draußen weiter, um nach zehn Minuten ins Zimmer gehüpft zu kommen und fröhlich zu rufen: »Mummy, ich will mich als Feuerwehrmann verkleiden, okay?«, so als wären sie ein Herz und eine Seele und es immer gewesen. Trotzdem war er dabei ein winziges bisschen schüchtern und zeigte, wie ich meine, durchaus Einsehen, dass er sich falsch verhalten hatte und jetzt nach einem Weg suchte, Frieden zu schließen, ohne dabei zu Kreuze kriechen zu müssen.
Ich fand dieses Verhalten durchaus akzeptabel für einen Dreijährigen. Es war nicht ganz so akzeptabel für zwei Drei undsechzig jährige. Das Bemühen, alte Übertretungen vergessen zu machen, indem man sich zuvorkommend verhielt, war ein guter Anfang. Aber es reichte nicht aus. Ich wollte eine ausführliche Erklärung und eine detaillierte Entschuldigung. Dann würde ich vielleicht loslassen können.
Tabitha pflegte Tomas hinterher an sein Schreien und Beißen zu erinnern, woraufhin er regelmäßig antwortete: » Mir tut es leid, Mummy.«
Woraufhin die Anspannung aus ihren Schultern wich und sie mit zuckersüßer Stimme antwortete: » Mir tut es auch leid, Schätzchen. Ich habe übertrieben.«
(Nicht dass ich übertrieben hätte. Also, jedenfalls nicht stark. Aber genau wie Tomas würden meine Eltern keine Entschuldigung aussprechen, solange sie nicht dazu gezwungen wurden.)
Also rief ich bei Vivica an.
»Schatz! Du weißt nicht zufällig, wie man Musik von einem Computer lädt, oder? Er will einfach nicht!«
»Dir fehlt die richtige Software, Vivica«, sagte ich.
»Aber es ist ja alles da, die ganzen Dateien. Sie wollen nur nicht auf die CD.«
»Vivica. Ich -«
»Tim weiß so was bestimmt. Ist er da?«
»Nein, er ist nicht da. Ich rufe von Fletch aus an.«
»Dann rufe ich ihn bei euch an. Oder ist er im Büro?« Ich zog eine Grimasse, bevor ich antwortete. »Woher soll ich das wissen? Wir sind nicht zusammen.«
»Was? Immer noch nicht? «
Dieses Gespräch entwickelte sich gar nicht wie erhofft. »Also«, sagte ich, »eigentlich wollte ich darüber sprechen, dass ich immer das Gefühl hatte, ihr würdet Cassie und mich unterschiedlich behandeln.«
Schweigen.
»Ehrlich gesagt war ich … überrascht, dass ihr mir nicht von der Adoption erzählt habt.« Mein Herz klopfte. Konnte man das möglicherweise als Tadel auslegen? Wenn Vivica auch nur den Hauch einer Kritik zu spüren meinte, reagierte sie, als hätte man ihr einen Hammer über den Schädel gezogen.
»Wir haben niemandem etwas erzählt.«
»Ach was, nicht mal Cousine Denise? Oder Tante Edith?«
»Die waren älter. Ein einziges Mal hat sich Cousine Denise verplappert, aber nachdem dein Vater
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