Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Meine Schwester und andere Katastrophen

Titel: Meine Schwester und andere Katastrophen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maxted
Vom Netzwerk:
Nein, das ist geschwindelt. Normalerweise sagte er »Brot«.
    Ich presste verlegen die Knie zusammen. Selbst windelweiche Juden wie wir wussten, dass Fleisch und Milchprodukte nicht in dasselbe Gericht gehörten. Selbst die Nachbarin unserer Eltern, die zu Hause koscher lebte, aber in ihrem Auto Specksandwichs aß (es war ein Saab, ich glaube, sie betrachtete ihn als neutrales Gebiet wie Schweden), scheute davor zurück, Butter zum Anbraten zu nehmen. Dass meine Mutter den Hershlags, die vielleicht nicht besonders gläubig, aber zumindest sehr traditionell waren, Hühnercremesuppe servierte, war so, als hätte sie ihnen ins Gesicht gespuckt.
    Normalerweise hätten Cassie und ich einen verstohlenen Blick getauscht. Mein Gott, was hat sie jetzt wieder angestellt. An jenem Abend mieden wir jeden Augenkontakt. Ich hoffte inständig, dass sich mein Vater entschuldigen würde. Er wies Vivica nie zurecht, er wusste genau, dass er genauso gut einen Krieg mit Amerika anfangen konnte. Ich beobachtete unsere Mutter und sah, dass sie in Gedanken ausschließlich bei ihrer nächsten Zigarette war. Auf ihrem Gesicht zeigte sich keinerlei Reue, nur leichte Verärgerung. Sie rauchte Vogue Super-Slim Menthol, eklige dünne Stäbchen. Als ich zu Hause ausgezogen war, hatte sie mir eine Kiste mit Bettzeug,
das sie loswerden wollte, mitgegeben. Als ich ein blaugrünes Laken aus der Kiste zog, fiel ein Vogue-Stummel auf den Boden, und ich bemerkte mitten im Stoff ein braunes Brandloch.
    Cassie fand als Erste die Sprache wieder.
    »Mummy.«
    Cassie hatte die Cambridge University besucht (damit meine ich, dass sie dort Jura studiert hat, und nicht, dass sie nur einen Tagesbesuch auf dem Campus absolviert hat), und uns war allen aufgefallen, dass ihre Ausdrucksweise seither wesentlich geschliffener war. Nur die richtig Reichen sprechen ihre Mutter auch nach dem zehnten Geburtstag mit »Mummy« an, und ich glaube, Cassie ging davon aus, dass wir das wussten.
    Unsere Mutter schreckte auf und konzentrierte sich wieder auf das Geschehen am Tisch.
    »Ivan und Sheila können das nicht essen, Mummy. Das ist Fleisch in Milch.« Mir fiel auf, dass sie sich nicht die Mühe machte zu behaupten, wir könnten das nicht essen. Ich nehme an, die Hershlags wussten bereits, dass wir abgespeckte Juden waren. Jetzt wussten sie es definitiv. Ich erwartete mit angehaltenem Atem die Antwort meiner Mutter. In Cassies Stimme schwang ein Hauch von Verärgerung, der unserer Mutter anzeigen sollte, dass sie möglicherweise und unter Umständen einen schrecklichen, grotesken und beleidigenden Fauxpas begangen hatte, aber alle bereit waren, gütig darüber hinwegzusehen.
    Ich glaube nicht, dass unsere Mutter das mit Absicht getan hatte. Der Lapsus war eine Konsequenz ihres totalen Desinteresses daran, irgendwelchen Verwandten ein Sabbatmahl zu servieren. Sie war egozentrisch. Andere Menschen langweilten sie. Ihr innerer Monolog lautete wahrscheinlich:
Ist das langweilig, warum können die das nicht erledigen? In ihrer Unfähigkeit, eine Aufgabe, die ihr nicht lag, überzeugend zu bewältigen, glich sie einer Dreijährigen. Genau wie in ihrem extremen und kompromisslosen Widerwillen gegen jede Zurechtweisung.
    Die erschrockene Miene unserer Mutter wandelte sich in Verdrossenheit. »Das ist unmöglich«, sagte sie. »Auf der Dose steht ›Hühnercremesuppe‹. Also stammt alles vom Huhn!«
    »Ach - sogar die Creme? « , fragte George - ein klein wenig barsch, wie ich fand.
    Zugegeben, vor allem seine Eltern hatten unter der Speisewahl meiner Mutter zu leiden, aber trotzdem war er ein Heuchler. Immer wenn George Tim in den David-Lloyd-Club mitnahm (Georges Versuch, Tim heimlich zum Juden zu machen - wer im Lloyd-Club Mitglied wird, ist praktisch konvertiert), spielten sie höchstens fünf Minuten Tennis, bevor George die Flucht zum nächsten McDonald’s antrat, wo er sich einen doppelten Cheeseburger bestellte. Er war die Letty Jackson unter den Veganern.
    »George, das ist doch egal!«, sagte seine Mutter.
    »Was soll das heißen, es ist doch egal - das ist es keineswegs!«, sagte Mr Hershlag. Er tupfte sich das Gesicht mit der Serviette ab. Er keuchte schwer, und seine mit einer rosa Mädchenspange an den schütteren Haaren befestigte Kippa - oder »Kippe«, wie unser Vater dazu sagte - war abgerutscht und baumelte ihm jetzt seitlich am Kopf.
    »Ich fand die Suppe ganz köstlich«, flüsterte Tims Mutter.
    »Ja, Schatz, aber sie war trefe «, belehrte sie Tims Vater.

Weitere Kostenlose Bücher