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Meine Schwester und andere Katastrophen

Titel: Meine Schwester und andere Katastrophen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maxted
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dem Baby zu gratulieren - sie erwähnte es nicht einmal -, hatte ich das üble Gefühl, ihr Spielball zu sein. Wenn sie wütend war, warum sagte sie das nicht?
    Normalerweise blieb ich vollkommen unberührt, wenn sich ein Verwandter unhöflich verhielt. Solange man nicht zu einer jener dysfunktionalen Familien gehört, in denen es niemanden besonders wundert, wenn der Vater dem Sohn die Freundin ausspannt, bin ich der Auffassung: Diese Menschen lieben dich, und wo geliebt wird, wird immer auch
ein bisschen gehasst. Man muss das Schlechte mit dem Guten nehmen.
    Aber hier gelang es mir nicht. Ich hatte das Gefühl, mein Baby zu verraten.
    »Sprich mit ihr«, sagte Tim, als wäre es das Einfachste auf der Welt.
    Ich erwog diese Möglichkeit und verwarf sie dann. Ich wollte nicht mit ihr sprechen. Ich wollte sie bestrafen.
    Ich wartete bis Freitagabend.
    Der jüdische Sabbat dauert von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang, und zwar von Freitag auf Samstag. Jede »Arbeit« ist verboten, wobei das Autofahren interessanterweise als Arbeit gilt, weshalb religiöse Juden überallhin zu Fuß gehen. (Mir persönlich erschien es andersherum einleuchtender.) Traditionellerweise versammeln sich die Familien in der Synagoge und gehen anschließend nach Hause, um weiterzubeten und um das Sabbatmahl einzunehmen. Sie zünden Kerzen an, brechen das Brot und trinken Wein. Wobei natürlich jede Familie ihre eigenen Traditionen entwickelt; unsere Tradition bestand darin, das religiöse Drumherum wegzulassen und gleich mit dem Essen anzufangen.
    »Shabbat shalom!« , sagte mein Vater erleichtert, nachdem er sich, Georges Eltern zuliebe, die diese Dinge ernster nahmen, durch die diversen hebräischen Gebete gearbeitet hatte.
    »Shabbat shalom!« , riefen Tims Eltern, die diese Dinge ebenfalls ernster nahmen, auch wenn sie der anglikanischen Kirche angehörten.
    Das ganze Szenario war ein einziger Albtraum für meine Mutter, denn man erwartete von ihr zu kochen. Noch dazu war Georges Mutter eine fabelhafte Köchin. Die arme Frau freute sich von Herzen, wenn richtig gegessen wurde, und trotzdem spielte George seinen Eltern seit Jahren vor, er sei
Veganer, was genauso beleidigend war, als hätte er in ihrem Wohnzimmer ein Schwein am Spieß gebraten. In der unauslöschlichen Hoffnung, es möge sich dabei um eine vorübergehende Laune handeln, bereitete seine Mutter jedes Mal, wenn er und Cassie zu Besuch kamen, gebratenen Fisch in Mazze-Mehl zu. George reagierte mit einem misstrauischen Schnüffeln, öffnete dann seinen Tiefkühlbeutel und holte ein Glas mit Zuckersirup, eine Flasche Mandelmilch, einen Beutel mit Biohafer, eine Dose mit drei getrockneten Aprikosen und sieben Himbeeren heraus, aus denen er ein Mahl kombinierte, das er dann am Tisch aß, stets auf einen Kommentar lauernd. Mrs Hershlag bat ihn jedes Mal, den Hafer wenigstens zu kochen - »Wer isst schon rohen Haferbrei?« -, aber George ging gar nicht auf ihre Bemerkungen ein. Ich bemühte mich zu begreifen, was Cassie an diesem Mann fand, aber es blieb mir ein Rätsel. Er war klug und amüsant, das schon, aber genau wie Joker bei Batman nutzte er seinen Intellekt nicht für das große Ganze. Ach, was sage ich, selbst das kleine Ganze wäre besser gewesen. Und Cassie wurde an seiner Seite deutlich kompromissloser.
    Tims Mutter war keine so große Bedrohung, da sie, was sie auch von Vivicas Kochkünsten halten mochte, ihre Rolle kannte und darauf programmiert war, immer nur »Das schmeckt ganz köstlich« zu murmeln. So wie es aussah, war unsere Mutter nicht der Meinung, dass Männer eine Meinung zu ihren Fähigkeiten haben konnten, und wenn sie eine hatten, dann wollte Vivica sie nicht hören. Jahraus, jahrein schwieg unser Vater standhaft zu ihrem Essen - wahrscheinlich aus der Überzeugung, dass es besser ist, nichts zu sagen, wenn man nichts Nettes sagen kann.
    Ich meinte einen Anflug von Widerwillen in der Art und Weise zu erkennen, wie unsere Mutter die Suppenteller auf
den Tisch knallte. Das wahre Ausmaß ihres Widerwillens offenbarte sich allerdings in der Suppe selbst, einer erstaunlichen Mischung aus Gemüse und Campbell’s Hühnercremesuppe.
    Ich sah, wie Georges Mutter Georges Vater einen kurzen Blick zuwarf und ihren Löffel ablegte. Unser Vater erhob sich und trug schnell und schweigend die Teller ab.
    »Kann ich euch noch etwas Chhhallah abschneiden?« Er hörte sich an wie ein rauschendes Radio. Und er gab sich wirklich Mühe. Normalerweise sagte er eher »Holler«.

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