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Meine Schwester und andere Katastrophen

Titel: Meine Schwester und andere Katastrophen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maxted
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man-weiß-schon-wo
beschnüffelte, und sie lächelte erst wieder, als wir das Graffito auf der Brücke an der Ausfahrt vom Flughafen Heathrow sahen. Aber unser Vater sagte: »Wenn ich im Urlaub bin, will ich mein eigener Herr sein. Ich will keinen Upgrade. Ich will nicht, dass jemand mich kennt. Ich will mich nicht rasieren müssen.« Ich konnte es nicht leiden, wenn unser Vater unrasiert blieb. Die Stoppeln waren grau. Für mich sah er dann aus wie ein Opa, der sich nicht mehr unter Kontrolle hatte.
    Cassie war höchst angetan vom glitzernden St. Moritz und verbrachte den Großteil der Zeit damit, in einem mottenzerfressenen Pelzmantel herumzustolzieren, den sie auf Tante Ediths Speicher gefunden hatte. Ich fürchte, es waren Eichhörnchenfelle. Unser Vater hatte eine Familiensuite gebucht, wo Cassie und ich auf dem Sofa saßen und schwatzten. Ich hörte unsere Eltern nicht hereinkommen, im Gegensatz zu Cassie, die mich plötzlich laut anherrschte: »Jetzt hör schon auf, ständig von deinen Blowjobs zu reden.« Dann rannte sie aus dem Zimmer.
    Da es im Elternlexikon keinen Eintrag unter dem Stichwort »Gerede über Blowjobs« gab, schwiegen meine Mutter und mein Vater. In meinem Lexikon war darüber auch nichts zu lesen, aber ich war so beschämt, dass ich schwieg. Ein paar Tage später bekam ich eine Rachenentzündung. Unser Vater warf einen Blick in meinen Mund, meinte ein Geschwür zu erkennen und zog daraus den Schluss, dass ich mir eine Geschlechtskrankheit im Mund zugezogen hatte. Er ging mit mir zum Arzt und verkündete: »Elle a eu de rapport oral.«
    Auch wenn sich schon bald herausstellte, dass mich keine Geschlechtskrankheit befallen hatte, erzählte ich unserem Vater nie die Wahrheit. Ich war so gefesselt von dem schaurigen Drama, das sich in seiner Phantasie abspielte, dass ich tatsächlich in mein Tagebuch schrieb: »Es ist doch kein Tripper!«
Auf dem Weg zum Arzt wäre ich am liebsten gestorben. Aber mit sechzehn hatte ich das Gefühl, dass es viel schlimmer war, noch keinem Mann einen geblasen zu haben. Ich weiß nicht, ob ich unserem Vater je vergeben habe. Es verletzte mich, dass er mir nicht vertraute, aber noch verletzender fand ich, dass er mich nicht kannte. Cassie andererseits verzieh ich schon bald. Damals ging mir auf, dass ich ihr immer verzieh.
    Nachdem mein Baby gestorben war, sorgte sich Cassie rührend um mich. Professionell rührend. Nicht wie viele andere, die mir Trost zusprachen. Und dabei ein bisschen flott waren . Sie schienen die Geschichte abzuwägen und zu dem Schluss zu kommen, dass sie genau ein »Es tut mir so leid für dich«-Gespräch wert war. Natürlich fragten sie: »Und wie GEHT es dir?«, aber ihre Mienen sagten im selben Moment: »Erzähl es mir nicht.« Es war wie ein Albtraum, in dem dich jemand retten muss, aber du kein Wort herausbringst und dich niemand hören kann.
    Darum erzählte ich niemandem, dass ich jeden Morgen aufwachte und eine selige Sekunde selbstvergessen meinen Bauch streichelte. Der Schmerz war tief in meine Knochen gesickert. Wenn der Chefredakteur mit einem Arbeitsproblem zu mir kam, konnte ich ihn oft nicht hören, weil es in meinem Kopf gellte: »Verpiss dich, verpiss dich - merkst du nicht, dass ich vor Schmerz am Ende bin?« Die Assistentin des Chefredakteurs versicherte mir - mit der Zuversicht der Gleichgültigen: »Du wirst irgendwann andere Kinder bekommen.« Ich wollte keine anderen Kinder. Ich wollte dieses Kind. Es war niederschmetternd, wie brutal ich mich nach einem Menschen verzehrte, den ich überhaupt nicht kannte. »O Baby«, flüsterte ich heimlich. »Armes, kleines Baby« - und dann, weil ich immer für sie gesprochen hatte - »ach, Mummy.«

    Immer wieder spulte ich mein Leben zurück, um den surrealen Horror zu analysieren, in dem es sich aufgelöst hatte. Warum? Wie? In der siebzehnten Woche, Tag fünf, waren wir beide gesund und munter. In der siebzehnten Woche, Tag sechs, waren wir tot. Die siebzehnte Woche, Tag sechs, hatte mich ausgelöscht. Vor siebzehn Wochen hatte ich nichts gehabt und war glücklich gewesen. Aber sechzehn Wochen und fünf Tage lang hatte ich das Gefühl gekostet, alles zu haben, und seither war »nichts« nicht mehr nur »nichts«. Es war ohne alles. Es war nicht zu ertragen.
    Die Krämpfe kamen plötzlich und unter Schmerzen, und das Blut war nass und glitschig und überall im Bett. Ich ließ Tim nachschauen - ich hatte zu viel Angst, um selbst nachzusehen. »Es kommt in Klümpchen «, sagte er.

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