Meine Schwester und andere Katastrophen
Plötzlich bekam ich keine Luft mehr, ich konnte nicht mehr genug Sauerstoff einatmen, um zu schreien. Tim fuhr uns mit sorgenvoller Miene ins Krankenhaus, ich im Nachthemd mit einem Handtuch zwischen den Beinen. Er trug mich in die Notaufnahme - sie fuhren mich auf einer Bahre in einen Raum neben dem Kreißaal -, und eine Sekunde lang konnte ich mir, inmitten der Hektik, der Aufregung und der Schmerzen, beinahe ausmalen, ich würde meinem Kind das Leben schenken.
Von wegen. Tatsächlich schenkte ich ihm den Tod.
Jeder einzelne Augenblick hob sich durch sein Grauen von den übrigen ab. Wie mir mein Verstand erklärte: Das ist das Ende , und mein Herz ihm um keinen Preis glauben wollte. Wie ich auf einem Bett lag und aus dem Raum nebenan die Monitore mit dem Herzschlag der ungeborenen Kinder hörte. Wie mir der Stationsarzt erklärte, dass ich eine »aktive Fehlgeburt« hätte. Wie die Wehen immer fester und fester aufeinanderschlugen, wie ich darum bettelte, sie zu bremsen, damit das Baby drinblieb, und wie die Hebamme mir
erklärte: »Der Muttermund ist schon geöffnet, Schätzchen. Es gibt keine Möglichkeit, keine Mittel, die verhindern könnten, dass der Uterus kontrahiert. Es tut mir leid.« Sie erklärte mir, dass ich nicht zu pressen bräuchte, und in diesem Moment war mir noch elender zumute - was für eine schäbige Gnade, mit meinem verräterischen Körper nicht auch noch gemeinsame Sache machen zu müssen.
Das winzigste, perfekte kleine Mädchen.
Der Stationsarzt war nett und gestand mir zu, dass es »ein traumatisches Erlebnis« sei, bevor er sich eilig aus dem Staub machte. Ich formte das Wort »Warum«, und er sagte, eventuell hätte ich in der achten Woche eine Blutung gehabt … zehnte … immer wiederkehrende Ereignisse … könnten den Muttermund geöffnet haben … Bakterien … in den Unterleib … Blutklumpen … infiziert … Wehen … Die Worte waberten um mich herum, und immer mehr Fragen stiegen auf wie Seifenblasen: Hatte ich Blutungen gehabt? Hatte ich damals überhaupt schon gewusst, dass ich schwanger war? War ich so vertrottelt, dass ich angenommen hatte, ich hätte meine Tage? Aber ich hörte immer nur meine Stimme und den gellenden Schrei »Baby - tot«. Er versuchte mich zu trösten - die »üblen Gefahrenpunkte« einer späten Fehlgeburt, während meine eine »einmalige Komplikation« sei -, aber ich war halb taub vor Kummer.
Weil ich den Gedanken an den Verbrennungsofen nicht ertragen konnte, gab mir das Krankenhaus eine kleine Schachtel mit. Einen behelfsmäßigen Sarg für mein erstes Kind. Sie gaben sich redlich Mühe, ehrlich. Ich sah es an ihren Blicken: »Die arme Frau.« Ich wollte keine arme Frau sein. Ich wollte eine Mutter sein.
Mit bloßen Händen in der Erde wühlend, beerdigte ich mein Baby unter dem orange blühenden Busch. Ich musste
daran denken, wie ich vor unendlich vielen Jahren als kleines Mädchen mein Kaninchen in einer Schuhschachtel begraben hatte, und ich war froh, dass ich damals nichts von dem hier geahnt hatte. Meine Welt schrumpfte zusammen, alles spiegelte meine Trauer wider. Mit glasigem Blick in den Garten starrend sah ich ein kleines weißes Blütenblatt zu Boden segeln - die hämische Botschaft eines sadistischen Gottes - und brach laut heulend zusammen. Ich war genauso schlimm wie Tims Mutter (die überzeugt gewesen war, dass das Rotkehlchen, das im Vogelbad seine Federn aufplusterte, ihre Oma sei, die sie kontrollieren wollte).
Mein schwachsinniger Körper glaubte immer noch, schwanger zu sein - er verhöhnte mich mit zwei blauen Strichen auf dem Test, den ich danach machte. Ich fühlte mich leer - was ich auch war. Wie eines von diesen billigen hohlen Schokoladeeiern - wie hießen sie noch? - Kinder-Überraschungseier. Überraschung! Deine Kinder sind tot!
Tim - stumm und bedrückt - war mir keine Hilfe. Bis dahin hatte er mir andauernd Hühnersuppe gemacht. Jetzt hörte er damit auf, als sei ich es nicht mehr wert, dass er für mich kochte. Eine Woche nach der Fehlgeburt erwischte er mich dabei, wie ich im Schwangerschaftsbuch nachschlug, in welchem Stadium wir inzwischen gewesen wären. Er wurde blass und streckte die Hand aus wie ein Lehrer, der einen verbotenen Comic konfisziert. Dann sagte er: »Lizbet. Versuch daran zu denken, was der Arzt gesagt hat. Ob eine Schwangerschaft erfolgreich verläuft, lässt sich ebenso wenig vorhersagen wie eine Zahl beim Würfeln. Du kannst nicht bei jedem Wurf eine Sechs garantieren. Manchmal wirfst
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