Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Meine Schwester und andere Katastrophen

Titel: Meine Schwester und andere Katastrophen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maxted
Vom Netzwerk:
verteidigt
hätte. »Sie ist so empfindlich, dass es sie zu sehr schmerzt, darüber zu reden«, sagte er. Ich lächelte ihn an, während ich im Geist eine Tec-9 knattern ließ und sein Hirn auf der Wohnzimmerwand verteilte, bis der matte Mountain-Mist-Anstrich ruiniert war (was nicht weiter tragisch gewesen wäre, da die Hausratversicherung Unfallschäden abdeckte). Es war mir egal, welches Mysterium hinter der verblüffenden Unfähigkeit seiner Mutter steckte, zur Kenntnis zu nehmen, dass etwas Schlimmes passiert war - sollte ich etwa raten ? Wenn ja, hätte ich darauf getippt, dass sie es nicht für bedeutend genug hielt, um ihr Bedauern auszudrücken.
    »Nein«, stellte ich klar. »Sie ist so egoman , dass es sie zu sehr schmerzt, darüber zu reden.«
    Tim ertrug es nicht, dass seine Mutter nicht perfekt sein sollte, und stakste aus dem Zimmer. Ich stampfte ihm hinterher, denn ich wollte den Streit. Es war noch gar nicht lange her, da hatten seine Eltern eigenartigerweise beschlossen, während ihrer Urlaubswoche in Alicante einen Stierkampf zu besuchen, und Tims Mutter hatte die Erfahrung als so traumatisch empfunden, dass sie sie unbedingt mit uns teilen musste. Sie war wie ein Tankschiff, das in einem Naturschutzgebiet Giftmüll verklappt.
    »Dann haben sie ihm das Ohr abgeschnitten … das arme Tier hat sich nass gemacht …« - immer weiter prasselten die verstörenden Einzelheiten auf uns ein, obwohl ich fortwährend bettelte: »Hör auf, hör auf, bitte! Ich will das nicht hören!« Aber sie konnte nicht aufhören, sie redete immer weiter. Ich hatte Tim mit »Ist-das-zu-fassen«-Miene angesehen, und er hatte halb lachend mit den Achseln gezuckt. Jetzt begriff ich, dass Tims Mutter zu schwach war, um ihren Schmerz für sich zu behalten. Sie musste ihn irgendwo abladen.
    Ich war stärker als sie. Ich hatte keine Wahl. Darum machte
ich mir nicht die Mühe, sie aufzuklären, als ich ans Telefon ging und sie sofort loskrähte: »Ach, du klingst schon besser!« Stattdessen reichte ich schweigend den Hörer an Tim weiter und behielt den Schmerz für mich.
    Ich bewegte mich anders. (Tim: »Hast du Verstopfung? Du läufst so komisch.«) Es war ein hochkomplexer Vorgang, fast als müsste ich eine explosive Flüssigkeit transportieren. Ich hatte das Gefühl, dass die ganze Welt explodieren würde, wenn ich mit der Hüfte an die Tischecke stieß.
    Ich glaube, der Schmerz hat eine Funktion. Er ist etwas , wenn die Alternative das Nichts ist. Den Schmerz loszulassen hätte bedeutet, das Schicksal anzunehmen - das Schicksal im grausamsten Sinn dieses Wortes -, und das kam nicht in Frage. Ich wollte auf keinen Fall wankelmütig werden. Trotzdem. Das Drängen meiner Mitmenschen, ich solle mein Leben »weiterleben«, setzte mir zu. Es ist zwecklos, den Menschen etwas zeigen zu wollen, das sie nicht interessiert, darum legte ich die Trauer tief in meinem Innern ab.
    Nachdem mich die Reaktionen meiner Mitmenschen nur ärgerten, war es meinem Gefühl nach das Beste, einen Schlussstrich zu ziehen. Allgemein herrschte die Auffassung, dass es meine Schuld war. Ehrlich, ich nehme liebend gern die Schuld für fast alles auf mich. Als es an Cassies Hochzeit (im Juni) regnete, fühlte ich mich dafür verantwortlich. Aber diesmal konnte ich mir nicht die Schuld geben. Ich gab meiner Schwester die Schuld. Mir fiel ein, wie wir im Theater Peter Pan gesehen hatten. Cassie war das einzige Kind im Zuschauerraum gewesen, das sich weigerte, Tinkerbell mit ihrem Klatschen vor dem Tod zu retten. »Ich kann sie nicht leiden«, hatte sie erklärt und die Arme verschränkt. Mir klingt heute noch im Ohr, wie sie das gesagt hatte - wie einen Zigeunerfluch.
    Vielleicht hatten sie recht. Vielleicht übertrieb ich wirklich.
Ich war keine Mutter, die einen betrunkenen Autofahrer anschreit, während ihre neunjährige Tochter tot auf der Fahrbahn liegt. Bei so einer Tragödie gibt es kein Vertun. Die Mutter kann mit reinem Gewissen alle Kästchen ankreuzen. Trauer? Ja. Depression? Ja. Mitgefühl? Ja. Niemand, nicht einmal der größte Vollidiot, würde der Mutter einer toten Neunjährigen erklären: »Vielleicht war es am besten so.« Aber eine ganze Reihe von angeblich intelligenten Menschen hatte kein Problem damit, exakt diese Worte zu mir zu sagen. Verwirrend. Ich war es gewohnt, mich von anderen überzeugen zu lassen, weshalb es ein befremdliches Gefühl war, immun gegen alle Ratschläge zu sein.
    Der einzige Mensch, der mir überhaupt Trost spendete

Weitere Kostenlose Bücher