Meine Schwester und andere Katastrophen
(Cassie zeigte zwar Mitgefühl, aber das war geheuchelt), war Vivica. Seltsam, es war eine vollkommen neue Entwicklung in unserer Beziehung. Vor meiner Schwangerschaft hatte sie sich nie besonders mit mir abgegeben. Wenn ich sie anrief, setzte sie sich nie hin, um mit mir zu plaudern. Ich konnte hören, wie sie herumging, eine Zigarette anzündete, in Papieren kramte, herumzappelte , damit die Zeit verging, bis ich endlich aufhörte, über mich zu reden, und sie den Hörer auflegen konnte.
Ich hatte immer den Eindruck, dass ich sie als Kind enttäuscht hatte - ich war weder besonders elegant noch besonders klug. Ich war still, kniff oft die Augen zusammen und hatte einen verfärbten Schneidezahn. Ich war nicht benutzerfreundlich. Ich hatte damit keine Probleme, schließlich war ich genauso enttäuscht von ihr. Aber als ich ein Baby im Bauch hatte, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, ihre Anerkennung gewonnen zu haben. Und als ich das Baby verlor, hatte ich das Gefühl, auch meinen Status verloren zu haben - als wäre Ersteres nicht schlimm genug.
Nachdem Tims Mutter mich vom VIP zum Phantom herabgestuft hatte, bedeutete mir Vivicas Mitgefühl umso mehr. Ich rechnete ihr die stille Verzweiflung hoch an. Ab und zu sah ich die Anzeichen. Als im Fernsehen eine Werbung für Pampers lief, schrie sie unseren Vater an: »Dreh den Ton weg! Dreh den Ton weg!« Dass sie nie über ihre Gefühle sprach, lag wohl daran, dass es ihr nicht gefiel, welche zu haben. Falls sie je ein Gefühl ausdrückte, hatte man immer den Verdacht, dass es ihr entwischt war wie ein Pferd aus dem Stall - und sich genauso wild und ungestüm austobte. Genauso konnte ich nachspüren, wie sich Bewusstes und Unbewusstes unausgesprochen vermischten, wenn ich in den Ausgaben von Mother & Home aus den frühen siebziger Jahren blätterte.
Unter Vivicas Leitung war der Tonfall fröhlich und positiv, das Heft prall gefüllt mit Rezepten (»Kuchen der Woche: Pfirsichtorte mit Kokoscreme«), lustigen Hobbys (»Nähen Sie Ihr eigenes Dackelkissen«), romantischen Kurzgeschichten (»Die Liebesgabe«) und Dekorationsideen (»Ein geschickter Ehemann schreinerte diese tolle Kommode aus Kiefer …«). Und doch lauerte zwischen den Zeilen etwas Beängstigendes. Aus jeder einzelnen Seite hörte ich unsere Mutter schreien: »Ich verkaufe einen Albtraum!«
Es gab unzählige Anzeigen, in denen die Leserinnen zum Abnehmen aufgefordert wurden. (»Nichts ist hässlicher als dicke Schenkel …«) Es gab Anzeigen, in denen durchzuhören war, dass Abnehmen eine Herausforderung sei (»Was hilft gegen nervöse Kopfschmerzen …«, »Weizenkleie - die natürliche Verdauungshilfe …«).
Es gab den Reigen neuer Fertiggerichte: Lammkasserole, Hirtenpastete … und gleichzeitig die unausgesprochene Mahnung, dass diese praktischen Hilfen im Grunde inakzeptabel
waren (in einer Anzeige, mitten in einer zehnseitigen Sammlung von Cordon-Bleu-Rezepten platziert, entschuldigten sich die Hersteller dafür, dass sie mit ihrem Produkt die kulinarischen Fähigkeiten ihrer Leserinnen in Zweifel zogen).
Es gab unzählige Produkte, die den Haushalt erleichtern sollten - »Ajax flüssig: doppelt so viel Ammoniak, halb so viel Arbeit!« Artikel wie »Kampf dem Koller« ließen Resignation erahnen und gaben die Gewissheit, dass es keinen Frieden geben konnte. »Wenn Ihnen alles über den Kopf wächst, müssen Sie sich mit fester Stimme sagen: ›Hör auf, wie ein kopfloses Huhn herumzurennen.‹«
Es gab eine medizinische Seite, die dazu da war, die Leserinnen physisch wie psychisch in Topform zu halten. Wobei nicht zu übersehen war, dass Doktor Frank die Frauen grundsätzlich impertinent und widerwärtig fand. All seine Antworten begannen mit: »Vielleicht sind Sie übergewichtig …« und endeten mit: »Überdenken Sie auch Ihr eigenes Verhalten.« Dagegen zu der »BESORGTEN LESERIN«: »Was Ihr Freund Ihren Angaben nach tut, ist eine normale sexuelle Ausdrucksweise, die in keiner Hinsicht gefährlich ist.«
Ich betrachtete die letzte Seite von Mother & Home (eine Reklame für Petito - das erste kalorienreduzierte Kartoffelpüree überhaupt) und malte mir aus, wie eine Frau in einer stocktauben Welt um Hilfe rief. Nach meiner Fehlgeburt fühlte ich mich unserer Mutter enger verbunden als je zuvor.
Aber ich unternahm nichts. Ich hatte kein Interesse daran, unsere Beziehung zu pflegen . Wahrscheinlich verletzte sie das, denn ihre Besuche nahmen spürbar ab. Wohingegen Cassie mit fanatischer
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