Meine Schwester und andere Katastrophen
sich jedes Mal über meinen Teller und sagte mit bebender Stimme: »Gib einem armen Bettelweib was zu essen!« (Sie machte das immer dann, wenn Tante Edith in der Küche abwusch.) Ich schob ihr jedes Mal seufzend den Teller hin. So war es weniger nervig. Dann kam Tante Edith wieder ins Zimmer - ihr modischer Auftritt war theatralisch, sie trug gern einen Kaftan mit rotem Paisley-Aufdruck und silbern abgestepptem Kragen oder einen gehäkelten lila Poncho mit weißen Hosen und Stetson - und dröhnte wie eine Unheilsprophetin: »Cassandra! Ist das Elizabeths Essen?«
Cassie stritt das immer ab, aber nach zwei reichlichen Portionen Galaring sprach der Brandy für sich: Sie schüttelte nur den Kopf und fiel vom Stuhl. An jenem Abend servierte uns Tante Edith nur »etwas Einfaches« - in Milch pochierten Schellfisch, Fadenbohnen und Stampfkartoffeln. Sie saß bei uns und löste währenddessen das Kreuzworträtsel der Times. Cassie stupste mich, und ich sah, dass sie ihre Stampfkartoffeln zu einem riesigen Penis geformt hatte. Offenbar gefiel es mir, den dummen August für Cassie zu spielen - vielleicht weil sie sich dadurch wenigstens auf mich konzentrieren musste. Erst neulich hatte ich dieses Mahl nachzukochen versucht (ohne Stampfkartoffeln oder Penis, da beides nicht zu meiner Diät passte), aber der Fisch war zu alt und die Milch angebrannt. Ich ließ Tim kosten, worauf er würgend erklärte: »Das ist in jeder Hinsicht ungenießbar.«
Darum beschloss ich, als Cassie mich besuchen kam - diesmal rief sie vorher an, damit ich keine Chance hatte, wieder in der Badewanne unterzutauchen -, endlich Frieden zu schließen. Cassie hatte offenbar das Gleiche beschlossen, da ihre ersten Worte lauteten: »Lizbet, ich muss dir etwas erzählen.«
Sie sah verändert aus. Irgendwie abgespannt. So gar nicht wie die Frau, die ihren Fitnesstrainer so hart rangenommen hatte, dass er einen Sonnenstich bekam und das Training vorzeitig beenden musste. Sie sah eher aus wie das kleine Mädchen, das ich ein paar Jahre lang gepiesackt hatte, bis es gerissener wurde als ich. (Es gab eine nette Fee namens Glockenblume und eine böse Fee namens Primel. Ich durfte mir aussuchen, welche Fee Cassie in ihrem Bettchen besuchen kam. An Cassies viertem Geburtstag nahm Primel Glockenblume als Geisel und gab sie erst wieder frei, als Cassie mir ihre ganzen neuen Spielsachen schenkte.)
Ich war voll der besten Vorsätze, aber Cassie traf einen wunden Nerv. Denn als sie sagte: »George und ich versuchen seit achtzehn Monaten ein Kind zu zeugen«, da wollte ich sie in den Arm nehmen. Ich wollte sagen: »Darum also, jetzt geht mir ein Licht auf!« Aber plötzlich überrollte mich der ganze Schmerz von Neuem, und ich sagte: »Tja, wir haben alle so unsere Probleme.«
Cassie
KAPITEL 17
Als Lizbet und ich jünger waren, stritten wir viel. Bis Lizbet unweigerlich sagte: »Ach Cassie, wir dürfen nicht streiten. Wir brauchen ein Wort, mit dem wir den Streit beenden können!« Wir legten ein Zauberwort fest, das einen sofortigen Waffenstillstand nach sich ziehen würde, begannen zu streiten, und im selben Augenblick hatte ich das Wort vergessen. Jetzt hatte sie das Wort vergessen. Es lautete »Anstand«.
Ich griff nach meinem Mantel und stürmte aus ihrem Haus. Ich hätte heulen können. Aber ich tat es nicht, nie. Ich verachte Frauen, die in der Öffentlichkeit heulen. Wir Frauen können nicht von Chancengleichheit plappern, schicke Kostüme tragen und dann in Tränen ausbrechen, sobald etwas nicht so läuft, wie wir es gern hätten. Das ist gesellschaftlich genauso unverantwortlich, wie über eine rote Ampel zu fahren. Wenn auch nur eine Frau im Büro weint, denkt jeder Mann in der Firma, dass er besser ist als jede von uns. Ich bin Anwältin - im Job zu heulen kommt da wirklich nicht in Frage; und ich wende diese Regel auch zu Hause an.
Ich war geschockt. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie dermaßen verbittert war. Es ist gesellschaftlicher Konsens, dass du, wenn jemand wütend auf dich ist, nur dein eigenes Pech einzugestehen brauchst, und schon muss er netter zu dir sein. Um das psychologische Warum hatte ich mich nie geschert, für mich war es einfach ein praktisches Mittel, mit
dem sich die Menschen manipulieren lassen. Trotzdem nehme ich an, dass Abneigung meist aus Neid entsteht und dass dieser Neid, sobald du durchblicken lässt, dass du kein unantastbares Goldkind bist, sich in harmlosen rosa Staub auflöst, der sich aus Überheblichkeit,
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