Meine Schwester und andere Katastrophen
Mitleid und schlechtem Gewissen zusammensetzt - was ganz nebenbei dazu führt, dass die Beteiligten weniger arrogant sind.
Lizbet verstieß gegen alle Regeln, und ich hatte die Nase voll. Es tat mir leid, ich hatte ihr gezeigt, dass es mir leidtat, ich hatte ihr meine Lage erklärt - was sollte ich noch alles tun? Ich wollte ihr wieder nahe sein, aber sie schien fest entschlossen, aus lauter Trotz mit mir zu brechen und einen Wettstreit anzuzetteln, wer wem länger grollen konnte. Ich bin immer für das Motto »Spüre meine Wunde« zu haben (wenn George zu lange im Pub war, lasse ich regelmäßig meine spitzesten Highheels auf der Treppe stehen, das nennt man »Kommunikation«), aber ihr Kommentar war schlicht zu grausam. Außerdem konnte man kaum behaupten, dass sie ihr Kreuz mit Anstand und Würde trug. Sie benutzte es als Rammbock, mit dem sie alles und jedes niedermachte.
Ich hätte gern mit ihr über ihre Gefühle gesprochen, aber ich war nicht sicher, ob sie sich über diese Gefühle im Klaren war. Ja, das Baby, natürlich, aber auf mich wirkte ihr Zorn irgendwie wahllos, und ich hatte den Verdacht, dass mehr dahintersteckte, als sie sich eingestehen wollte. Wobei ich wohlgemerkt mein eigenes Problem in Betracht zu ziehen hatte: George. Ich konnte meiner Schwester nicht anvertrauen, dass ich meinen eigenen Ehemann nicht mehr leiden konnte. Das war mir peinlich; es ließ mich gar nicht gut aussehen. Vor allem nachdem Lizbet sich als Sexpertin der Nation neu erfunden hatte und sie und Tim neuerdings für ganz Britannien bumsten.
Nach diesem Artikel übers Essen konnte ich Tim kaum mehr in die Augen sehen. Ständig sah ich seinen schokoladeüberzogenen Penis vor mir, die Schlagsahne auf seinen Nippeln und die verschwundene Bohne in Tomatensoße, die versehentlich in sein … geschenkt, ich will niemandem den Appetit verderben. Ich wollte mir nicht vorstellen müssen, wie meine Schwester Sexspielchen veranstaltete, und ich wollte mein Gehirn nicht mit ihren pseudomäßigen »Sex and the City«-Debatten verseuchen. (»Was ist wohl schmackhafter: eine schokoladeüberzogene Heuschrecke oder ein schokoladeüberzogener Schwanz? Mir ist klar, dass das sehr vom jeweiligen Schwanz abhängt, da es unter den Grashüpfern wahrscheinlich weniger Variationen gibt …«)
Jeder Satz blieb mir im Kopf hängen wie ein schlechter Werbejingle. Bei der Lektüre stellten sich meine Haare auf - ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, was sich sonst noch alles aufstellte, aber bei der Leserschaft des Ladz Mag konnte ich mir das ziemlich gut vorstellen -, und die Fotos waren schon fast softpornografisch. Ich hatte den Eindruck, dass Lizbet aufgehört hatte zu essen (die Nichts-durch-den-Mund-alles-übers-Ego-Diät) und fest entschlossen war, ihre neue Figur zur Schau zu stellen - wenn sie zum Beispiel in einem pompösen Korsett rittlings auf einem männlichen Model hockte und mit einer rosa Federboa seine Brustwarzen kitzelte. Zum Glück blieb uns der Anblick seiner rosa Boa erspart. Oder sie stand als liederliches Schulmädchen in schwarzen Strümpfen vor uns (wo ich doch aus erster Hand weiß, dass ihre Schuluniform nicht spießiger hätte sein können: dicke Wolljacke, ein Rock wie ein Zirkuszelt und braune Socken).
Aber ganz offenkundig brauchte sie etwas Ablenkung und fand sie hier. Es braucht niemand zu glauben, dass ich ihr
den billigen Ruhm neidete. Ich hatte meine Auftritte vor Gericht. Lizbet war in jenem Stadium der Regression, in dem sie glaubte, dass es besser war, begehrt zu werden, als respektiert zu werden. Ich nehme an, Ersteres macht mehr Spaß , wenigstens anfangs. Aber was die innere Zufriedenheit angeht, ist auf Respekt wesentlich mehr Verlass. Auch Lizbet - die sozusagen in zweihunderttausend Männerbetten gefallen war und sich zur Schlampe gemacht hatte - würde das irgendwann bergreifen, spätestens wenn in einer Bar der zehnte Fremde in ihren Ausschnitt zu fassen versuchte.
Trotz alledem wünschte ich mir, ihr von George erzählen zu können. Ich hatte Angst, ein ungewohntes Gefühl. Ich wollte nicht noch mal von vorn anfangen müssen und um Jahre zurückfallen. Ich wusste besser über das alte Ägypten Bescheid als über das moderne Dating. Schamhaare zum Beispiel. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was man heutzutage damit macht. Was ist da inzwischen angesagt? Eine Komplettrasur? Ein kleines Haarherzchen? Ich sah schon bildhaft vor mir, wie ich mich zum ersten Mal nackt vor einem neuen Mann zeigte
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