Meine Schwester und andere Katastrophen
Arm? Aber dazu würde es nicht kommen, denn ich war rund um die Uhr eklig zu ihm. Er brauchte nur zu nah an meinem Gesicht zu gähnen, und schon fuhr ich ihn an: »Du stinkst aus dem Mund!« Ich spürte diesen Zorn, der mein Herz zu sprengen drohte und der, wie ich annahm, von dem verlorenen Baby herrührte, aber irgendwie schien er wie ein nicht waschechtes T-Shirt alles andere verfärbt zu haben.
Ich hörte Reifen quietschen, dann raste Tim in seinem kaputten Auto davon. Ich wünschte, er würde anrufen und mir sagen, wohin er fuhr. Selbst wenn er mich anschrie, war das immer noch besser als nichts. Ich versuchte sehr wohl, ihn mit gehässigen Bemerkungen aus seinem Schweigen zu reißen.
Er kam das ganze Wochenende nicht nach Hause, erst am Sonntag rief Tims Mutter an und sagte: »Elizabeth, ich finde, du solltest wissen, dass Tim bei uns ist.« Sie fügte hinzu: »Ich möchte nicht, dass du glaubst, er würde tot in einem Leichenschauhaus liegen, Gott behüte, ptui-ptui-ptui.«
Offenbar pflegte Tims Mutter Umgang mit Juden der älteren Generation oder mit Madonna. »Ptui-ptui-ptui« war ein alter Aberglaube, das kabbalistische Gegenstück dazu, dass man auf den Teufel spuckte. Wenn Tante Edith irgendwann
einen überheblichen Kommentar abgab, zum Beispiel: »Elizabeth, du bist eine so schöne junge Dame!«, dann machte sie schnell »ptui-ptui-ptui«, nur für den Fall, dass Gott sie belauschen und daraufhin beschließen könnte, dass sie sich zu viel auf meine Schönheit einbildete, weshalb er mein schönes Gesicht am nächsten Tag von einem Laster plattfahren lassen würde.
»Ptui-ptui-ptui« konnte auch als Schutz gegen ein unliebsames Vorkommnis eingesetzt werden - etwa dass Tim tot im Leichenschauhaus lag -, nur für den Fall, dass man allein durch die Erwähnung Gott auf eine dumme Idee gebracht hatte.
Erst am Montag trat ich wieder vor die Tür. Aufzustehen erschien mir so witzlos, wie vor einem Zahnarzttermin Lippenstift aufzutragen. Cassie rief mich auf dem Handy an, aber das schaltete ich aus. Sie kam sogar vorbei und stemmte sich mit dem Finger gegen die Klingel, aber ich machte nicht auf. Ich blieb im Bett und ließ den Lärm über mich hinwegspülen. Das Telefon läutete, und ich überließ dem Anrufbeantworter die Arbeit. Als ich die Aufnahme abspielte, schallte Tabithas wohlerzogene Stimme durch das leere Haus.
»Lizbet. Timmy. Hallo! Hier sprechen die Nachbarn. Meine Lieben, es tut mir leid, mich so aufzudrängen, aber ich habe mich gefragt, ob ihr eventuell in der Lage seid, euren Patenpflichten nachzukommen und mir Tomas abzunehmen - für eine Stunde, eine halbe Stunde, eine halbe Minute -, denn wenn ihr es nicht tut, könnte ich ihm den Hals umdrehen. Aha-ha-ha! War nur Spaß!«
Ich spielte die Nachricht noch mal ab. Sie hörte sich nicht an, als würde sie Spaß machen. Ihre Stimme brach bei »umdrehen«. Außerdem hatte ich morgens um halb sechs durch
die Wand gehört, wie Tomas weinte. »Bitte«, hatte er geschluchzt. »Ich will bei Mummy schlafen. Bitte! «
Sekunden später hatte ich ein Baby kreischen gehört, gefolgt von donnernden Schritten und einem markerschütternden Schrei: »Du gehst wieder in dein Bett, und zwar JEEEEEEEETZT !«
Seit Celestias Geburt, hatte ich gedacht, während ich mich auf die andere Seite gewälzt und die Decke über meine Ohren gezogen hatte, hatte Tabitha allem Anschein nach ihren Ehrgeiz verloren, ihren Titel als BESTE MUTTER DER WELT zu behalten. Außerdem hatte ich mitbekommen, wie sie Jeremy anfuhr: »Wie wär’s mal mit Multitasking! Ich stehe nie einfach nur rum, während ich telefoniere!«
Ich spürte ein leicht stechendes Mitleid mit Tomas und Jeremy. Niemand möchte von einem geliebten Menschen so angefahren werden. Kein Wunder, dass Jeremy dauernd in seinem schwarzen Volvo V50 durch Nordlondon kurvte - ich wette , er hatte einen V70er-Komplex -, die schwarze Top Gun- Sonnenbrille auf der Nase und den CD-Player mit »Cigarettes and Alcohol« von Oasis bis zum Anschlag aufgedreht.
Tomas kam - laut Tim, der das wiederum von Jeremy gehört hatte - nicht besonders gut mit der kleinen Störenfriedin zurecht. Als Tabitha aus dem Krankenhaus gekommen war, hatte Tomas einen Blick auf das Bündel in den Armen seiner Mutter geworfen und gefragt: »Bist du auch ihre Mummy?« Damals hatte ich nur das Wort »Mummy« gehört und mich gefragt, ob mich wohl jemals wer Mummy nennen würde. Ich fragte mich das immer noch. Ich entschied mich gegen die Stunde
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