Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
mich zum Wächter abstellt, wenn er letztlich dann doch alles alleine macht.
Mulder ist nur ein paar Schritte von mir entfernt.
Ich schaue ihn an.
Er schaut mich an.
»Was geschieht jetzt?«, frage ich in Richtung Geiselnehmer.
»Gar nichts geschieht. Capitano, Ihre Inspektion ist beendet.«
»Kann ich näher kommen?«, fragt der Bulle den Monitor.
»Warum? Wollen Sie hier jetzt auch noch nach versteckten Kindern suchen?«, antwortet Ingenieur Romolo Sesti Orfeo.
»Nein«, lächelt Mulder beflissen, »ich danke Ihnen vielmehr dafür, dass sie mich bis hierher haben kontrollieren lassen. Ich würde nur gern nachschauen, ob die Geisel verletzt ist.«
»Ich sagte bereits, der hat nichts. Spreche ich in Zungen, oder glauben Sie mir einfach nicht?«
An diesem Punkt zähle ich bis drei, da ich mir sicher bin, dass Matrix irgendwie versuchen wird, die Situation auszunutzen (was tatsächlich prompt eintritt: ich kenne sie eben, diese Typen).
»Er hat mir die Nase gebrochen«, denunziert Matrix den Ingenieur und wimmert vor sich hin. »Helft mir, bitte, mir geht’s schlecht.« (Das alles garniert mit der heiseren Stimme eines Sterbenden und astreiner Opferhaltung. Amnesty International aufgemerkt!
Kriminelle wenden sich gerne an Institutionen, wenn ihnen eine Ungerechtigkeit widerfährt. Sie haben einen ausgeprägten Sinn für das gesetzlich Zulässige, und wenn es um ihre eigenen Vorteile geht, dann hängen sie den Werten der Zivilgesellschaft an wie untadelige Steuerzahler.)
Wirklich dämlich von Matrix, in ein so unwürdiges Gejammere auszubrechen. Ingenieur Romolo Sesti Orfeo lässt ihm das auch nicht durchgehen.
»Oh, wie schade«, kommentiert er. »Haben Sie das gehört, Capitano? Ihm tut das Näschen weh.«
Und als das gesagt ist, drückt der Ingenieur ihm die Pistole drauf – den Arm ausgestreckt und ganz ruhig, der Blick eiskalt, den Finger am Abzug, wie ein wild gewordener Hund, den eine zum Zerreißen gespannte Leine wenige Zentimeter vor seiner Beute gerade noch in Schach hält.
»Wie der Schlappschwanz erst winseln wird, wenn ich ihm in den Fuß schieße …«, höhnt er.
Mulder und ich schauen einander an, sichtlich beeindruckt von dem Tempo, mit dem er von der Rhetorik der Ironie zur Kälte der Drohung übergegangen ist.
In diesem Augenblick kommt mir plötzlich der Gedanke, dass Spannung im Grunde – das formuliere ich mal aus dem Stegreif – nichts anderes ist als das Bewusstsein, nichts anderes tun zu können als zuzuschauen, was sich da vor einem abspielt. Spannung ist willkommene Ohnmacht. Wenn du die Eintrittskarte für einen Film kaufst, wenn du also in Emotionen investierst (weil, das müssen wir uns klarmachen, man kauft auch die Emotionen), begibst du dich freiwillig in einen Zustand heuchlerischer Besorgtheit, in den dich ein Regisseur versetzt und den er durch Zauberei mit der Kamera wieder aufhebt. Du bist passives und zahlendes Subjekt eines einvernehmlichen, durch das Kunstwerk ermöglichten Masochismus.
Jetzt bekommt Matrix es wirklich mit der Angst zu tun – er hat den Chef geärgert und weiß das auch.
Das Problem mit den Delinquenten ist, dass sie immer auf die Füße fallen wollen und dass sie auch beim Schauspielern arrogant sind. Sie gehen gar nicht erst davon aus, dass du ihnen ihr Leiden und/oder ihre Reue abnimmst: nein, sie nutzen deinen Sinn für ihre Würde sehr viel doppelbödiger aus. Weshalb du ihnen am Ende hilfst, um diesen Wert der Würde zu schützen, den du nicht verraten sehen willst. (Was ungefähr so pervers ist, wie wenn dich jemand bittet, ihm deine Eintrittskarte zu schenken, damit dir das Spektakel erspart bleibt.)
Das Problem von Matrix ist allerdings – jedenfalls unter den gegebenen Umständen –, dass Ingenieur Romolo Sesti Orfeo nicht die Absicht hat, diese Eintrittskarte zu bezahlen.
Mulder riecht Lunte und versucht, die brenzlige Situation blitzschnell zu entschärfen.
»Herr Ingenieur, es ist in Ordnung, ich glaube Ihnen.«
Das Schönste ist: Er schaut mich an, während er das sagt.
Dem Ingenieur Romolo Sesti Orfeo zittert plötzlich die Hand. Was mir kein gutes Zeichen zu sein scheint für Matrix (der auf einmal tatsächlich übermäßig Speichel absondert).
»Haben Sie gesehen, wie leicht sich diese Bastarde als Opfer ausgeben, Capitano?«
Ich kann nicht anders, aber mir fallen schon wieder Filme ein, die perfekt zu dieser Situation hier passen – und Rückschlüsse auf den möglichen Ausgang dieser Farce hier ermöglichen.
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