Meine Seele weiß von dir
befürchte, er hat Fieber. Seine Haut glüht förmlich durch die Kleidung hindurch.
„Ich wollte dich nur verletzen und dir Angst einjagen, als ich gesagt habe, dass ich es war.“
„Das hat funktioniert.“
„Der Moment, vor dem ich mich gefürchtet hatte, war plötzlich da. Es war so weit ... du wolltest gehen. Ehrlich gesagt habe ich die ganze Zeit über geahnt , dass es so kommen würde. In dir war immer nur Raum für Leander.“
„Ach, Rick.“
„ Es war schön mit uns. Ich wollte nicht, dass du es kaputtmachst, weil ich das schon einmal durchgemacht habe.“
„Mit Michaela.“
Er nickt. „Alles, was mir blieb, war Schmerz. Wenn ich dich anschaute, wenn ich an dich dachte - Schmerz. Auch, weil du mich so an Michaela erinnerst.“
„Und dann?“
„Bin ich vollkommen ausgeklinkt. Nicht zum ersten Mal in meinem Leben“, bekennt er. „Ich habe keine Erklärung, w arum ich den Stein nach dir geworfen habe! Keine Ahnung, wie das passieren konnte. Ich wollte es nicht, ich wollte dir nicht drohen oder dir was antun. Dir doch nicht! Nur ein ganz normales Gespräch führen. Und dann kam diese rasende Wut. Im nächsten Moment hatte ich bereits den verfluchten Stein in der Hand!“
Ratlos, mit hängenden Schultern, sitzt er da. Immer wieder schüttelt er den Kopf, beinahe störrisch, die Augen unverwandt auf mich gerichtet. „Nur reden wollte ich“, wiederholt er eindringlich. „Nur reden.“
„Ja“, sage ich leise und nicke. „Ich verstehe dich, Rick.“
Er schluckt schwer.
„Ich verstehe dich“, wiederhole ich, „weil ich diese Art Wut schon selbst empfunden habe.“ Die Reue schnürt mir die Kehle förmlich zu. „Und danach wollte auch ich nur eines: heimzahlen.“
Eine Weile sitzen wir wortlos voreinander. Dann richtet sich Rick langsam auf. Er löst den Knoten und befreit mich von der Schnur. „Damit müssen wir jetzt leben“, murmelt er. Er streckt seine Hände aus und berührt die roten Striemen, die das Kabel auf meiner Haut hinterlassen hat. „Verdammte Gefühle.“
„Und jetzt?“ Meine Stimme zittert so sehr wie seine Hand, als sie meine Fessel löste.
Rick antwortet nicht. Ein Gesichtsmuskel zuckt in seiner unrasierten Wange. Ansonsten sind seine Züge wie erstarrt. Er richtet sich kerzengerade auf und mustert mich nachdenklich. Nach einem endlosen Augenblick des Zögerns schüttelt er unmerklich den Kopf. „Im Grunde hast du gar keine Ähnlichkeit mit Michaela.“ Er spricht noch leiser. „Niemand hat das. Niemand.“
Ich lecke über meine trocknen Lippen und weiß nicht, was ich sagen soll. Doch er scheint auch keine Erwiderung zu erwarten. Entschlossen richtet er sich auf, wirft mir einen letzten Blick zu und verlässt mich.
Zurück bleiben ein Kohlestift und ein Block mit der Zeichnung einer Frau. Sie sitzt in einem Sessel vor einem Fenster und die Wolkenfetzen, die hinter ihr am Himmel hängen, scheinen aus ihren Schultern zu wachsen. Sie sehen aus wie abgerissene Flügel, die jeden Moment herabfallen.
Und doch erkenne ich keinen Schmerz in dem Gesicht der Frau, das mich scheinbar kühl und gelassen ansieht.
Es ist Sinas Gesicht.
Mein Gesicht.
Bei meiner Rückkehr bin ich froh, dass Leander noch nicht zuhause ist. Es ist mir lieber, ich warte auf ihn, als umgekehrt.
Ich fühle mich wie ein Kind am Weihnachtsmorgen: aufgekratzt und voller Tatendrang. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich kann einfach nicht aufhören, vor mich hin zu lächeln, und kann es kaum noch erwarten, Leander zu sehen!
Doch sosehr ich auch warte und versuche, die träge vorrückenden Zeiger der Uhr mit Blicken zu beschleunigen: Leander kommt nicht.
Es ist kurz vor Mitternacht, als ich mir endlich eingestehe, dass er nicht mehr kommen wird.
Warum hat er sich nicht gemeldet? Und weshalb kann ich ihn nicht erreichen, egal, wie sehr ich es auch versuche?
Ihm muss doch klar sein, dass ich den Brief seines Anwalts erhalten habe, dass ich auf ihn warte. - Oder?
Möglicherweise ist ihm etwas Unerwartetes dazwischengekommen.
Ich grübele und grübele, bis ich vor Müdigkeit kaum noch klar denken kann. Angezogen, ohne mich zu waschen, lasse ich mich ins Bett fallen und schaffe es gerade noch, mir die Sandalen von den Füßen zu streifen.
Mein Kopf berührt den kühlen, glatten Bezug des Kissens. Ich schließe meine vor Erschöpfung brennenden Augen - doch will der Schlaf einfach nicht kommen.
Ich bin zu aufgewühlt. Das Mondlicht, das durch Ritzen und Spalten der Vorhänge bricht,
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