Meine Seele weiß von dir
Landschaft sieht genauso aus wie auf einem Marsfoto: rote Erde, hier und da Felsbrocken und Erhebungen und rostiger Staub, der von einem eisigen Wind aufgewirbelt wird und mich einhüllt wie ein bösartiger Mückenschwarm. Die feinen Sandkörnchen stechen wie Insekten, wenn sie auf meine bloße Haut treffen, und ich kann mich kaum auf den Beinen halten.
Die Böen kommen von dem berühmten Marsgesicht, das hinter mir aus der Erde ragt. Seine leeren Augenhöhlen sind auf mich gerichtet. Es hat die Backen aufgeblasen und versucht, mich in den Abgrund zu blasen. Ich erwache in dem Moment, in dem ich den Halt verliere und in die Tiefe stürze.
Morgen, denke ich und schalte mit zitternder Hand die Nachttischlampe an, morgen werde ich zu Leander fahren. Ich muss herausfinden , wo ich stehe.
Und sollte es am Rand eines Abgrunds sein.
Am Montagmorgen frühstücke ich allein, noch bevor Frau Hischer ins Haus kommt. Es gibt Rührei mit Toast. Ich setze mich an den Küchentisch, schlage die Zeitung auf und meine Entschlossenheit stürzt in sich zusammen wie eine Schallmauer, die mit einem Donnern durchbrochen wird.
Ein Foto von Leander und diversen Prominenten, die ich allesamt aus dem Fernsehen kenne, ziert die erste Seite des Feuilletons.
Ich lese den Titel:
HÖRBÜCHER WERDEN NOCH VOR DER FRANKFURTER BUCHMESSE PRÄSENTIERT
In einem Zustand äußerster Anspannung überfliege ich den Artikel und kann nicht glauben, was ich lese:
Die neue Hörbuch-Reihe „Du hörst von mir“ des renommierten Audire Verlags wird noch vor ihrer Präsentation auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst dieses Jahres einem breiten Publikum vorgestellt.
Während der in Berlin stattfindenden „Du hörst von mir“ - Woche vom 30.06. bis zum 06.07. werden zahlreiche Lesungen, Präsentationen und Vorträge im Hörbuchforum des Audire Verlags veranstaltet, zu denen auch so prominente Gäste wie Rufus Bäcker, Leander Hohwacht , Anna Bergbach oder Caroline Eichenbaum erwartet werden, die allesamt als Sprecher in der Serie fungieren.
Heute ist der 30. Juni. Da Leander an dieser Veranstaltung teilnimmt, bedeutet das, er hält sich seit spätestens Samstag in Berlin auf. Warum hat er mir nichts davon gesagt? Womöglich, weil er nicht allein gefahren ist? Sondern mit ihr, mit Claudia?
Ich stöhne auf. Das darf einfach nicht sein!
Scheinbar war alles nur eine Art Waffenstillstand gewesen.
Der Appetit ist mir gründlich vergangen. Mit einer heftigen Bewegung schiebe ich den Teller zurück, stoße gegen meine Kaffeetasse und verschütte den Inhalt. Die Zeitung saugt die Feuchtigkeit auf. Das Bild verdunkelt sich und wird undeutlich.
Irgendetwas muss geschehen sein, dass Leander veranlasst hat, mich zu meiden.
Aber was?
Das Schlimmste ist, dass ich für eine Woche zur Untätigkeit verdammt bin. Denn ich werde ihm nicht noch einmal nach Berlin nachreisen. Nicht nach dem, was dort geschehen ist.
Ich fühle mich wie in meinem Traum, nackt und frierend am Rande des Abgrunds.
Kapitel 44
Es ist der dritte Juli, ein Donnerstag.
Ich komme vom Einkaufen und stelle fest, dass ich nicht in die Garage fahren kann, weil Ricks Wagen davor parkt.
Er selbst sitzt auf der Teakholzbank im Rosenpavillon und ist in den grün–orangenen Blütenschatten nur schwer auszumachen. Als er mich kommen hört, hebt er den Kopf und schaut in meine Richtung. Er schnellt hoch, mit weit ausholenden Schritten läuft er mir entgegen. Sein Gesicht wirkt verquollen und wächsern, als hätte er zu wenig geschlafen.
„Sina!“, stößt er hervor.
„Hallo“, entgegne ich wenig begeistert. Ich nehme meinen Einkaufskorb vom Rücksitz und bin auf der Hut vor Rick.
„Das Baby ist da!“
„Was?“
„Das Baby! Heute Morgen um kurz nach zwei ist die Fruchtblase geplatzt. All die Monate hat sich diese verdammte Schwangerschaft endlos hingezogen, und auf einmal ging alles so rasend schnell! Ich meine, es wäre doch erst in einigen Tagen so weit gewesen.“ Er unterbricht sich und fixiert mich mit einem undeutbaren Blick unter seinen kreuz und quer abstehenden Haaren, die ihm bis über die Brauen fallen. Seine Worte klingen heiser.
„Ich war dabei. Im Kreißsaal meine ich. Ich wollte es eigentlich nie, aber irgendwie ist es so gekommen und plötzlich durchtrennte ich die Nabelschnur und hielt meine Tochter in den Armen und ... und ...“
Ihm versagt die Stimme. Seine Augen stehen voll Wasser, zwei braune Teiche in einem bleichen Gesicht.
„Und was,
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