Meine Seele weiß von dir
begrüßt mich mit einem „Hallo, wie geht`s?“, woraus ich schließe, dass er mich kennt.
Ich antworte, dass es mir gut geht, bestelle einen Cappuccino und löffele nachdenklich den lockeren Milchschaum in mich hinein. Habe ich mich vorhin bei dem Pärchen auf dem Motorrad getäuscht?
Zu schade, dass Lisa gerade nicht zu ihnen hingeschaut hat!
Kapitel 9
Zu Hause finde ich Leander in der Garage, wo er in Gedanken versunken an seinem Motorrad herumschraubt. Irgendwo spielt ein Rekorder. Ich bekomme eine Gänsehaut: Es ist Aerosmith.
Leander sieht aus, als wäre er nie fortgewesen. Ich beschließe, dass er wahrscheinlich doch nicht derjenige war, der Lisa und mich auf dem Motorrad überholt hat.
Er trägt eine fleckige Jeans, die auf der linken Seite in Kniehöhe einen Riss aufweist, durch den ein Stück muskulöses Bein blitzt. Sein weißes Shirt ist beinahe malerisch mit Öl verschmiert. Auch auf seiner rechten Wange prangt ein Schmierfleck. Sein Haar ist zerzaust, seine Haut von einem leichten Schweißfilm bedeckt. Er sieht zum Anbeißen aus.
„Hallo“, begrüße ich ihn, richte ihm die aufgetragenen Grüße von Doktor Yvonne aus und erzähle ihm von der Sitzung.
Leander hört aufmerksam zu, während er sich die Hände an einem Lumpen abwischt. Wir spazieren zu der Teakholzbank, die auf dem rund eingefassten Rasenstück neben der Garage in einem Rankpavillon steht. Der Pavillon ist mit einer Flut hellorangener Blüten überzogen. Wir setzen uns in den duftenden Schatten, ohne uns zu berühren.
„Ehrlich gesagt, finde ich ihre Behandlungsmethode nicht eben erfolgversprechend“, gestehe ich.
Leander stimmt mir nicht zu. Im Gegenteil bezeichnet er die Ärztin als eine unorthodoxe Koryphäe und fragt mich, warum ich ihren Rat nicht sofort umsetzen will, anstatt wieder in meinem Schrank zu verschwinden.
Wie gut er mich kennt! Es ist genau das, was ich vorhatte.
„Freitags bist du immer mit deinem Laufkollegen Heiko Joggen gewesen. Du musst die Strecke ja nicht gleich laufen, sondern könntest in Ruhe einen Spaziergang machen.“
„Allein?“ Meine Stimme zittert bei dieser Frage.
Schlagartig ist mir mulmig zumute und ich sehne mich zutiefst nach der Sicherheit meines Schrankes. Bis jetzt haben mich Leander oder Lisa begleitet: zum Einkaufen, zur Post oder zu der einzigen Bäckerei, die es hier gibt.
Was ist, wenn ich mich verlaufe und vollkommen die Orientierung verliere? Oder wenn ich eine Art Anfall bekomme; schließlich ist noch immer nicht geklärt, warum ich am Pool überhaupt gestürzt bin.
„Versuch es doch! Es ist nicht weiter schwierig, du kannst dich gar nicht verlaufen.“
Er deutet auf den Feldweg, der an unseren Garten grenzt und in Richtung Wald führt, und erklärt mir die Strecke. Es ist tatsächlich einfach zu merken. Er fragt, ob ich mein Handy dabeihabe, was ich bejahe.
„Gut.“ Leander steht auf. „Ich mache noch den Ölwechsel zu Ende. Bis später dann.“ Ohne ein weiteres Wort geht er zu seiner Harley und beginnt an ihr herum zuschreiben .
Ein paar Sekunden sitze ich noch unschlüssig da. Ich schaue zum Wald hinüber. Von hier aus betrachtet kommen mir seine Schatten undurchdringlich, ja beinahe drohend vor. Aber vielleicht ist ein Spaziergang an einem einstmals vertrauten Ort wirklich keine schlechte Idee. Eventuell löst er Erinnerungen aus. Die Hoffnung, dort mein Gedächtnis wiederzufinden, lässt mich auf die Beine kommen. Einen Moment zögere ich noch. Doch dann mache ich mich auf den Weg.
Zuerst muss ich mich durch Dickicht drängen, bis zu der Stelle, wo die Bäume weiter auseinanderstehen. Ab hier kann man bequem einem Trampelpfad folgen.
Aufatmend spüre ich den elastischen Lehmboden unter meinen Füßen. Tief atme ich die frische Luft ein. Sie riecht nach Erde, Pilzen und Bäumen. Vögel zwitschern, Eichhörnchen keckern. Goldfarbene Sonnenstrahlen drängen sich zwischen den Blättern hindurch und kreieren Muster aus Licht und Schatten.
Wider Erwarten bereitet mir der Spaziergang Spaß, also marschiere ich munter drauflos. Irgendwann macht der Pfad eine Linksbiegung, direkt dahinter, auf einer Lichtung, steht ein uralter, mächtiger Lindenbaum.
Diese Stelle zieht mich magisch an.
Ich verlasse den Pfad, setze mich unter die weit ausladenden Äste der Linde und lehne mich mit dem Rücken gegen den Stamm. Ich fühle mich beinahe so geborgen wie in meinem Schrank. Mit geschlossenen Augen sitze ich da, denke mit gespaltenen Gefühlen an
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