Meine Seele weiß von dir
eher leidenschaftlich als gut, wie Leander nicht versäumt zu bemerken.
Ich habe, zu meinem Bedauern, weder außergewöhnliche Hobbys noch große Talente. Außer dass ich nicht nur eine hervorragende Goldschmiedin bin, wie Leander betont, sondern auch eine gefragte Schmuckdesignerin, gab es über mich nichts Erwähnenswertes herauszufinden.
Wie es scheint, bin ich eine rechte Eigenbrötlerin und kann mir lebhaft vorstellen, dass ich im Alter eine verschrobene Greisin sein werde, der man scheele Blicke zuwirft, wenn sie vor sich hin murmelnd durch die Straßen schlurft.
All das - und einiges mehr - weiß ich schnell . Doch es fühlt sich nicht echt an. Eher wie eine Rolle, die ich auswendig lerne für meine ganz private Soap. Das wirklich Wichtige offenbart sich mir dadurch nicht, alles bleibt offen. Ich erfahre nichts, rein gar nichts, über meine Gefühlswelt.
Man kann sich zwar einprägen, ob einer der Gegenstände, die einen umgeben, ein Geschenk war, das man sich schon lange gewünscht hatte. Aber nicht, wie es sich anfühlte, als man es endlich in Händen hielt.
Oder was ich empfunden habe, als ich den karamellfarbenen Bernstein von der Größe eines Taubeneis am Ostseestrand fand, oder wie es war, als ich mich in Leander verliebte. Sehr, sehr oft denke ich über diese Dinge nach.
Eines Tages vertraue ich mich Leander an. Es ist Freitagmorgen, kurz nach halb fünf, eine Woche nach meiner Entlassung. Leander ist eben mit der obligatorischen Tasse Kaffee (mit Kondensmilch!) nach oben gekommen, die er mir nun in den Schrank reicht. Es ist ein weißer Porzellanpott, mit Marienkäferchen übersät, leicht angelaufen, eine winzige Ecke ist am Rand herausgeschlagen. Ich habe gelernt, dass ich sie von meiner Großmutter zur Einschulung geschenkt bekommen habe.
Ich sitze in meinem Schutzraum und fühle mich kein bisschen wie Sina-Mareen. Ich bin einfach nur Sina. Die Frau im Schrank. Der mich abschirmt, behütet und umgibt wie ein Tierpanzer, wenn mich die Welt da draußen überfordert. In diesen Minuten bin ich so verletzlich. Ich spüre die aufgewühlten Schläge meines Herzens und höre mir zu, wie ich mich bei meinem Mann ausjammere.
„Du schreibst Gedichte“, erwidert Leander, als ich endlich still bin, und fährt zu meiner Verblüffung fort: „Manchmal. Ich finde sie recht gut. Du hast einige in Anthologien veröffentlicht. Die Bücher stehen in deinem Atelier im Regal.“ Und er zitiert:
„Endlos küssen will ich dich
deine Lippen – suchen, tasten, finden
deine Lippen – streifen, spüren, kosen
deine Lippen – netzen, saugen, kosten
Endlos küssen will ich dich.“
Aus der Deckung des Schrankes beobachte ich, wie seine Gesichtszüge ganz weich werden, ganz liebevoll. Die grünen Augen richten sich auf etwas, das nur er sehen kann. Sein großer, wunderschön geschwungener Mund verzieht sich zu einem sehnsuchtsvollen Lächeln, bei dem sich der rechte Mundwinkel ein ganz kleines bisschen mehr in die Höhe zieht als der linke.
Vermutlich denkt er an die Vergangenheit. An glückliche Stunden und hingebungsvolle Momente, die wir miteinander genossen haben, bevor alles so kompliziert wurde.
Ich beneide ihn darum. Glühend!
Eine Welle zärtlicher Gefühle umspült mich. Sie lässt mich die Schwebetür weiter öffnen. Meine Hand schiebt sich wie von selbst heraus, sie will sein Gesicht berühren, zu den kantigen Wangenknochen fahren, weiter zu dem mit nachtblauen Bartstoppeln bedeckten Kinn und von dort zu seinen Lippen. Ich wünsche mir, dass er meine Fingerspitzen mit kleinen Küssen bedeckt und mich aus diesem Schrank herausholt. Zu sich.
Jetzt schaut er zu mir.
Für die Dauer eines Wimpernschlages verschmelzen unsere Blicke. Dann verfängt sich meine Hand, die wie ein blasser Falter in der Luft schwebt, in seinem dichten Haar und durchwühlt es.
Seine Hände umschließen mein Gesicht so sanft, so vorsichtig, als wäre es aus Biskuitporzellan. Atemlos zieht er mein Gesicht zu seinem. „Sina-Mareen“, murmelt er. „Oh Gott.“
Es geht mir durch Mark und Bein. Ich spüre, wie meine Lippen schwellen, prall und heiß werden. Mein Körper scheint nur noch aus hochempfindlichen Nerven zu bestehen, als sein Mund sich meinem nähert, so nah kommt, dass es sich anfühlt, als würde er mich tatsächlich berühren.
Doch irgendetwas hält ihn zurück. Ich sehe es in seinen Augen, die sich urplötzlich verdunkeln, und ich merke, dass Leander sich verkrampft.
Die. Zeit. Steht. Still.
Aber sie rast
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